„Create don’t destroy“ (Neues erschaffen und nicht zerstören) war am Tag nach der Krawallnacht quer durch Stuttgart auf Holzbrettern zu sehen. Foto: AFP/Thomas Kienzle

Nach der Krawallnacht von Stuttgart war dutzendfach vor zerstörten Läden zu lesen: „Create don’t destroy“. Der Künstler blieb anonym. Jetzt gibt er sich im Gespräch mit unserer Zeitung zu erkennen und erklärt sein neues Werk zum CSD.

Stuttgart - Davon kann ein Künstler nur träumen. Heimlich hinterlässt er quer durch die City seine Streetart-Spuren und prompt werden diese zum begehrten Fotomotiv. Fast fühlt man sich an Banksy erinnert. Obendrein sind die drei Worte „Create don’t destroy“ auf Holzplatten vor zerstörten Läden massenhaft im Netz geteilt worden und zum Symbolbild geworden, das allen zeigen soll: Stuttgart will keine Randale! In Stuttgart gibt es nicht nur Idioten! Weit über Deutschland hinaus waren Fotos mit diesem Appell zu sehen. Selbst in den USA und in Japan ging die Botschaft aus Southern Germany um.

Am Tag nach der Krawallnacht, von der sich Stuttgart noch lange nicht erholen wird, ist die Idee entstanden. Sven Schoengarth, ein Künstler und IT-Berater, erfuhr kurz nach dem Wachwerden, was in seiner Stadt wenige Stunden zuvor passiert war. Dem 42-Jährigen erging es wie vielen Menschen der Stadt. Die Prügelattacken und Plündereien junger Männer schienen aus einer anderen Welt, aber nicht aus Stuttgart. Und doch war es hier passiert. Schockiert, wütend und fassungslos reagierten viele und wollten irgendwas gegen Gewalt tun. Aber was? Schoengarth postete noch vor dem Frühstück bei Instagram, was ihm durch den Kopf ging: „Create don’t destroy“. Neues erschaffen ist besser als etwas zu zerstören.

Die vielen Fotografen hatten ein Motiv

Mit einem Freund verabredete er sich noch am frühen Morgen in der Stadt, um sich ein Bild vom Ausmaß der Zerstörungen zu machen. Seinen speziellen Stift für Streetart-Kunst, mit dem SJKS (so lautet sein Kürzel bei Instagram) seit langem die Stadt verschönert, indem er etwa Sperrmüll bemalt und temporäre Werke schafft, hatte er wie immer dabei. Als er aus dem Haus ging, plante er noch nicht, die vielen Holzplatten zu beschriften, die an Stelle der zerstörten Schaufensterscheiben die Läden notdürftig sichern sollten. Nicht mit einer Schablone, wie viele meinten, sondern jeden einzelnen Spruch schrieb er von Hand: „Create don’t destroy“. Die Pressefotografen, TV-Kameraleute sowie Facebook- und Instagram-User hatten ein Motiv, das seitdem immer wieder zu sehen ist, wenn es um eine Nacht geht, die noch immer kaum zu verstehen ist.

Dass Sven Schoengarth die Kunstaktion heimlich gestartet hat und sich auch nicht öffentlich zu erkennen gab, als seine drei Worte überall zu sehen und auf großen Zuspruch gestoßen waren, hat einen einfachen Grund, wie er im Gespräch mit unserer Zeitung sagt: „Es ging darum, ein Zeichen zu setzen, nicht um meine Person.“

Als schwuler Künstler hat er es heute leichter als seine Vorgänger

Schon oft hat er Zeichen gesetzt. Mit seiner Kunst, die von Keith Haring und Andy Warhol beeinflusst ist, will der Stuttgarter gegen Homophobie und Rassismus protestieren. Wichtig ist ihm, die Geschichte der Gay-Kunst zu ergründen. Als schwuler Künstler hat es Sven Schoengarth heute leichter als Vorgänger zu Zeiten, in denen Homosexualität unter Strafe stand. Jetzt denkt er an Menschen, die noch immer am Rand stehen – an Transgender etwa sowie an die Aktivisten von Black Lives Matter.

Auf einer kompletten Häuserfassade (Größe: 4,80 Meter auf 6,60 Meter) im frei zugänglichen Hinterhof der Ludwigstraße 47 im Stuttgarter Westen hat Schoengarth das wohl größte Kunstwerk im öffentlichen Raum zum CSD geschaffen, der in der Coronakrise nur eingeschränkt stattfinden kann. Ein Unternehmer stellte die Außenfläche seines Hauses zur Verfügung. Über Fenster verfügt sie, die ins Street-Art-Werk miteinbezogen werden. „Beim Malen wurde ich tatkräftig von den Künstlerkollegen Busta170, MKG und Mario El Khouri unterstützt, ohne die ich es nicht in dieser Geschwindigkeit geschafft hätte“, berichtet Schoengarth und schwärmt von der „tollen nachbarschaftliche Aktion“: Die Nachbarschaft habe mit Essen, Trinken und Infrastruktur das dreitägige Arbeiten mit Spraydose und Acrylfarbe verfolgt.

Schoengarth begrüßt es, wenn der CSD politischer wird

Mit seinem Werk erinnert er an den Aufstand der Schwulen und Transgender, der 1969 in der Bar Stonewall Inn auf der Christopher Street in New York begonnen hat. Damals sei der Grundstock für die heutige Rainbow-Bewegung gelegt worden. Deshalb habe er die Regenbogenfarben verwendet sowie die Transgender-Flagge (zweimal hellblau, zweimal pink und einmal weiß in der Mitte) sowie die Farbe für People of Color (Braun) und Black People (Schwarz). Und weiter erklärt der Künstler: „Man sieht Aliens, die aktiv an den Bausteinen arbeiten, die für die Weiterentwicklung der queeren Bewegung stehen, während die Roboter die Weiterentwicklung der Bewegung passiv beobachten.“

Dass in diesem Jahr der CSD anders stattfindet ohne Partys, findet Sven Schoengarth gar nicht schlecht: „Dann tritt die politische Botschaft stärker in den Vordergrund.“ Mit seiner Botschaft nach der Krawallnacht hat er vielen Menschen aus dem Herz gesprochen. Bestimmt wird eines dieser Holzplatten mit der Aufschrift „Create don’t destroy“ eines Tages ins Stuttgart-Museum oder ins Haus der Geschichte kommen. Vom Zerstören hat die Stadt genug. Kreative Ideen sind gefragt!