Schöne Landschaft, aber ein karger Boden: Leichenauer an seinem Arbeitsplatz im Hegau Foto: agrarheute/Timo Jaworr

Stefan Leichenauer aus Tengen im Hegau ist Deutschlands „Ackerbauer das Jahres“. Doch der Weg dorthin führte über steiniges Geläuf.

Tengen - Den Spaten hat Stefan Leichenauer immer dabei. Jetzt rammt er ihn in den steinigen Boden. „Da, mein bester Mitarbeiter.“ Ein fetter Regenwurm krümmt sich in der kräftigen Hand. Leichenauers Acker dürfte allerdings ein harter Kanten sein. „Wir sind steinreich“, sagt der 42-Jährige. Die Wacker liegen auf dem Feld verstreut wie riesige vergessene Kartoffeln. Nur dürften hier schwerlich welche wachsen, erst recht nicht in dieser Größe. „Mit Gemüse hast du hier keine Chance.“

Leichenauer steht auf rund 700 Metern Höhe und blickt auf die Hegauvulkane: Hohenstoffeln, Hohenhewen und Hohentwiel sind zu sehen, dahinter der Bodensee mit der Radolfzeller Bucht. Doch der Blick, zu dem an klaren Tagen auch die Alpenkette gehört, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Hegau nicht als landwirtschaftliche Gunstregion bekannt ist. Die Ackerkrume gehört zu den kargsten im Land. Die Bodengüte – einst klassifiziert im Kaiserreich, weil man einsah, nicht alle Bauern gleich besteuern zu können – kommt auf der Skala von 0 bis 100 kaum über die 30er Marke hinaus. Mit den Bauern im Nachbardorf Talheim hatte früher selbst die Kirche Mitleid. Das Wenige, das sie ihren Feldern abtrotzten, durften sie behalten. „Die mussten nicht mal den Zehnten abgeben“, sagt Leichenauer.

Vom Kraichgau bis nach Stuttgart sind Ertragsmesszahlen von 90 keine Seltenheit. „Wenn du dort das Säen nicht vergisst, hast du schon geerntet“, habe sein Vater immer gespottet, erzählt Leichenauer. Aber hier im Hegau, wo Vulkangestein auf dem Acker liegt, da muss man schon ein Könner seines Faches sein – vielleicht sogar der Beste, vielleicht der „Ackerbauer des Jahres“.

Landwirte aus Leidenschaft

Diesen Titel hat Leichenauer gerade vom wichtigsten landwirtschaftlichen Fachverlag „Agrar heute“ verliehen bekommen – online, weil wegen Corona die „Nacht der Landwirtschaft“ ausfallen musste. Für den Bauernverband ist das eine verpasste Chance. Denn der 42-Jährige mit dem Ring im Ohr, der modischen Brille auf der Nase und dem gestutzten Vollbart aus dem Tengener Ortsteil Uttenhofen dicht vor der Schweizer Grenze ist ein Kommunikator im besten Sinne. „Ich rede gern“, sagt Leichenauer. Er kann es aber auch. In lockerem Seealemannisch spricht er über die Probleme seines Berufsstands. „Keinem Maurer würde man so reinreden wie uns Bauern“, sagt er. Doch er ist deshalb nicht beleidigt. Vielmehr sehe er gerade darin die Verpflichtung zur Öffentlichkeitsarbeit. Viele Landwirte hätten Angst vor Diskussionen. „Wir müssen zeigen, was wir tun. Und wir müssen die Menschen wieder stolz auf die Produkte machen, die hier bei uns wachsen.“

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Er und seine ganze Familie seien „Landwirte aus Leidenschaft“, sagt Leichenauer. Das meine er im doppelten Sinne. Denn dass die Bedingungen, unter denen heute Landwirtschaft betrieben wird, für die Betroffenen tatsächlich „Leiden schafft“, hat er am eigenen Leib erfahren. Und fast, und das gehört auch zu dieser Geschichte, wäre er gar kein Landwirt mehr oder allenfalls noch einer im Nebenerwerb, wie so viele andere. Selbst in Uttenhofen, einem Ort mit 145 Einwohnern weitab von Autobahn und Bahnstation, gibt es heute nur noch zwei Vollerwerbsbetriebe.

Leichenauers Geschichte hat zwei Wendepunkte. Der erste ereignet sich am Morgen des 16. Dezember 2014. Sein Vater kränkelt ein wenig. Er komme gleich, lässt er seine Frau ausrichten. Doch der Altbauer kommt nicht. Als die Enkelkinder zu ihm ins Schlafzimmer stürmen, finden sie ihn scheinbar friedlich schlafend im Bett. Um seinen Mund zeichnet sich ein Schmunzeln ab. Die beiden Buben glauben, der Opa erlaube sich einen Spaß mit ihnen. Sie kitzeln ihn am Fuß. „Komm Opa, aufstehen“, rufen sie. Doch er steht nicht auf. Er ist tot.

Einschneidendes Erlebnis

Erst 66 Jahre alt sei sein Vater da gewesen, sagt Leichenauer. Den Hof hatte der Senior längst an ihn übertragen, doch fürs Altenteil fühlte er sich zu jung. Täglich packte er mit an. Große Pläne habe man gemeinsam geschmiedet: fast 90 Mastbullen und 35 Kühe standen bei Leichenauers im Stall. Und es sollten mehr werden. Ein neuer großer Laufstall auf der grünen Wiese sollte her und die bisherige Anbindehaltung am Hof ersetzen. Für EU-Förderung wäre das Vorhaben zu klein gewesen, doch man wollte ohnehin das Meiste selbst bauen. „Mein Vater war mehr der Handwerker, ich mehr der Bauer. Wir waren ein gutes Team“, sagt Leichenauer. Damit war es von einem auf den anderen Tag vorbei.

Das Leben auf dem Hof ging weiter. Die Kühe mussten gemolken, der Stall ausgemistet, die Äcker abgeerntet werden – für einen Schaffer wie Leichenauer kein Problem. Auch von seinen Erweiterungsplänen rückte er nicht ab. Das hätte nicht gepasst zu dem Vorzeigelandwirt, der so richtig nach dem Geschmack der Funktionäre beim Badischen Landwirtschaftlichen Hauptverband (BLHV) funktionierte. Sogar in den Vorstand wurde er gewählt, für die Freien Wähler saß er im im Konstanzer Kreistag, und wenn es brannte, war er auch zur Stelle, als Oberlöschmeister bei der örtlichen Feuerwehr.

„Wenn ich um 6 Uhr morgens in den Stall bin, habe ich schon daran gedacht, was ich um 8 Uhr erledigen werde.“ Der Tag war streng getaktet. Es war, als ob Leichenauer mit dem Traktor auf der Überholspur raste, immer gereizt, immer am Anschlag. Wenn es aufs Feld ging, nahmen die Buben Reißaus. Dabei waren auch sie begeisterte kleine Bauern. Doch plötzlich hatten sie immer seltener Lust, beim Papa auf dem Bock zu sitzen. Und auch beim Stallbau lief es nicht mehr. Sein Bruder, der zum Helfen kam, wurde regelmäßig angepflaumt. „Dann mach es doch selbst“, sagte er schließlich und verschwand.

Der Zusammenbruch

Und dann kam der 16. August 2016. Eigentlich will Leichenauer an diesem Tag bei Kommingen direkt hinter der Grenze zum Schwarzwald-Baar-Kreis die Sommergerste abernten. Er liebt, es auf dem Mähdrescher zu sitzen. Wenn er aus drei Metern Höhe auf die Garben schaut, die vom Schneidwerk niedergesenst werden und dann in dem Koloss verschwinden, geht ihm das Herz auf. Das ist es, was für ihn die Faszination der Landwirtschaft ausmacht. „Man sät 200 Kilogramm pro Hektar und erntet acht Tonnen.“

Doch statt im Cockpit seines Mähdreschers liegt er plötzlich daneben – einfach so. Wie lange er dort verharrt, weiß Leichenauer nicht mehr. Sein Vater kommt ihm in den Sinn. Der hatte immer eine Weisheit parat: „Wenn’s pressiert, mach langsam, dann geht’s schneller.“

Für Leichenauer ändert sich an diesem Tag vieles. Mit Mühe zwingt er sich noch einmal hinauf ins Führerhaus und fährt die Ernte ein. Dann geht er heim und spricht mit seiner Frau. „Ich kann nicht mehr“, sagt er. Und siehe da: Seine Frau ist überhaupt nicht überrascht, sondern nur erleichtert über diese Einsicht. Geahnt hatte sie es längst, doch jedes Gespräch darüber sei zwecklos gewesen. Als die Mama es später hört, pflichtet sie ihrer Schwiegertochter bei. Die ganze Anspannung habe man sogar im Stall gespürt, sagt sie. Das Vieh sei regelrecht nervös gewesen. Und auch dies erfährt Leichenauer: dass seine Frau schon so gut wie auf gepackten Koffern gesessen habe. Doch das Eingeständnis seines Scheiterns ermöglicht auch den Neustart in der Beziehung.

Anti-Stress-Seminar für Landwirte

„Mein Arzt hätte mich sofort krankgeschrieben“, sagt Leichenauer. Doch Landwirtschaft und Burn-out passen schlecht zusammen. Schließlich müssen die Tiere gefüttert, die Felder bestellt werden. Doch trotz laufender Erntezeit macht er einen Schnitt. Er besucht ein Anti-Stress-Seminar für Landwirte, beerdigt die Pläne für den Aussiedlerstall und verkleinert sich. Die Kühe verkauft er an einen Kollegen in der Nähe, die Zahl der Ehrenämter wird reduziert. Auch der geliebte Mähdrescher kommt weg. „Ich konnte sowieso nicht mehr fahren. Das war wie bei einem Motorradfahrer, der nach einem Unfall eine Zeit lang nicht mehr aufsteigen kann.“

Dann fällt ihm ein altes Landwirtschaftsbuch in die Hände, aus dem schon sein Vater gelernt hat. Wie hat der das eigentlich gemacht, überlegt er. Und ihm fällt ein, was sein Opa immer gesagt hat: „Dein Kapital sind 17 Zentimeter Boden, den musst du pflegen, sonst gehst du in 17 Jahren Pleite.“ Stress, so wird ihm klar, ist nicht nur für den Bauern Gift, sondern auch für seinen Acker.

Wenn er heute an die Zeit vor seinem Burn-out zurückdenke, laufe es ihm kalt den Rücken herunter. „Da war keine Freude mehr da.“ Jetzt steht Leichenauer wieder an dem Feld mit den großen Steinen und der grandiosen Aussicht. Früher hatte er dafür keine Augen, jetzt gönnt er sich regelmäßig eine Auszeit. Und die soll auch sein Boden haben. Im vergangenen Jahr war hier noch ein Weizenschlag, in diesem Sommer soll eine Bienenweide wachsen. Statt den Boden mit Chemiedünger auf die nächste Kultur vorzubereiten, hat er mit der Klasse seines Sohnes 20 verschiedene Blütenpflanze eingesät. „Das bringt dem Boden richtig was.“

Methoden aus dem Biolandbau

Das Erstaunliche ist, dass sich all das auch rechnet. Er brauche 30 Prozent weniger Pflanzenschutzmittel für seine „Hybridlandwirtschaft“: Offiziell wirtschaftet er konventionell, doch er setzt Methoden aus dem Biolandbau wie das Striegeln ein. Zudem bringe ihm die konsequente regionale Vermarktung mehr Geld. Die Gerste geht an die Waldhausbrauerei im Schwarzwald, der Dinkel an Albgold auf der Alb, der Weizen an einen Bäcker im benachbarten Blumberg. Und auch für die Mastbullen hat er einen Abnehmer gefunden. Ein Metzger in Tengen lässt sich das Fleckvieh einzeln zur Hausschlachtung liefern.

Auch im Stall geht es mittlerweile gechillt zu, seit der Chef keine Hektik mehr verbreitet, sondern zur frühmorgendlichen Stallarbeit das Radio einschaltet. Nachdem er mit dem Metzger handelseinig geworden war, hat sich Leichenauer doch noch an den Umbau des Anbindestalls in einen Laufstall gewagt. Stolz zeigt er auf die erste Mauer. Die sei noch etwas schief geworden, aber der Rest könne sich sehen lassen. Statt des Papas halfen die Buben, die inzwischen wieder streiten, wer den Hof einmal übernehmen darf. Nur auf dem Traktor mitfahren wollen sie immer noch nicht. Klar, als Teenager sitzen sie natürlich längst lieber selbst am Steuer.