Digitale Inhalte erweitern die Stadtführung zum Thema Armut mit zusätzlichen Informationen. Foto: Citizen.KANE.Kollektiv/Christian Müller

Eine um digitale Inhalte erweiterte Stadtführung zum Thema Armut bietet die Möglichkeit, Stuttgart aus einer völlig neuen Perspektive zu erleben. Wie sehr das Thema übersehen wird, können die Teilnehmenden am eigenen Leib erfahren.

Die Königsstraße glitzert und leuchtet vorweihnachtlich. Doch die festliche Beleuchtung in der Stuttgarter Innenstadt täuscht darüber hinweg, dass die Weihnachtszeit nicht für alle eine Zeit des Lichts ist. Für obdachlose Menschen ist sie von Kälte und Isolation geprägt – eine Realität, die Conny aus eigener Erfahrung kennt. Neben der Kälte, die bei Minusgraden lebensgefährlich werden kann, wird vor allem die Einsamkeit zur unerbittlichen Begleiterin. „Es ist nicht nur das Wetter, das hart ist. Es ist die Einsamkeit“, sagt Conny, die selbst einige Zeit auf der Straße verbringen musste und ihre Perspektive mit anderen teilt.

Seit 2023 ist Conny Teil des alternativen Stadtführungsprojekts von Trott-war, sie erzählt bei Führungen durch die Innenstadt von einer Seite, die oft übersehen wird. Gemeinsam mit dem Stuttgarter Citizen.KANE.Kollektiv wurde der Stadtspaziergang unter dem Namen AR-Mut um eine besondere Dimension erweitert: An ausgewählten Stationen eröffnen Audios und Videos auf dem eigenen Handy neue Perspektiven auf die Armut.

Armut zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit

„Armut ist keine Kunst, aber mit Kunst können wir darüber sprechen“, lautet das Motto des Stuttgarter Kollektivs für dieses Projekt. Die Führungen sollen den abstrakten Zahlen ein Gesicht geben. Denn in Deutschland sind mehr als 14 Millionen Menschen von Armut betroffen, sie gehört damit zu den drängendsten sozialen Herausforderungen. Trotzdem bleiben die Menschen hinter den Zahlen häufig unsichtbar. Die Schlange vor der Tafel mag länger werden, doch die individuellen Geschichten und sozialen Lebensumstände verschwinden oft aus dem Blickfeld. Das Projekt AR-Mut nimmt sich dieser Lücke an, indem es Betroffenen eine Stimme gibt.

Die Stadt aus einer anderen Perspektive

Bei der Premiere der Tour am vergangenen Donnerstag dürfte den Teilnehmenden vor allem ein Moment in Erinnerung bleiben: Auf Connys Anregung hin setzte sich eine Teilnehmerin auf den Boden, direkt an den Rand der geschäftigen Königstraße. Minutenlang saß sie auf der Straße, die anderen in sicherer Distanz, während Passanten die Frau kaum eines Blickes würdigten. „Ich habe mich wie Luft gefühlt – ignoriert, minderwertig und ausgeschlossen“, beschrieb sie später ihre Erfahrung. Nur Kinder schenkten ihr ein neugieriges Lächeln, während Erwachsene sie fast reflexartig übersahen.

Conny nutzte die Situation, um zu erklären, warum viele obdachlose Menschen ihre Not lieber verstecken. „Die Scham ist groß, gesehen zu werden“, sagte sie. „Manche kommen erst spät am Abend an öffentliche Plätze, um Begegnungen mit Bekannten zu vermeiden.“ Einen besonderen Platz im Leben vieler auf der Straße lebender Menschen nimmt der Hund ein. Er ist Schutz, Wärme und treuer Begleiter in einem. „Ein Hund verurteilt dich nicht“, erklärte Conny. „Er bleibt einfach an deiner Seite, egal wie schwer das Leben ist.“

Interaktive Erlebnisse mit Trott-war

Die Führung ist Teil eines umfassenderen Projekts, das in der Dezember-Ausgabe der Straßenzeitung Trott-war ergänzt wird. Die Zeitung enthält eine Karte mit 24 Stationen entlang der Königstraße, an denen Text- und Bildbeiträge die Thematik vertiefen. QR-Codes führen zu Interviews, Audiobeiträgen, Musik und interaktiven 3D-Modellen, die eine erweiterte Realität schaffen und neue Perspektiven eröffnen.

Die Inhalte wurden in einer Workshop-Reihe in Zusammenarbeit mit Trott-war entwickelt. Diese künstlerischen und dokumentarischen Beiträge lassen die Besucher aktiv in die Lebensrealität von Betroffenen eintauchen. Kopfhörer und ein Smartphone mit vollem Akku werden empfohlen, um die immersive Erfahrung komplett auszuschöpfen.

Weitere Termine

Stadtführungen
Weitere Führungen mit Conny von der Straßenzeitung Trott-war und dem Citizen.KANE.Kollektiv gibt es am 12. und am 19. Dezember. Beginn ist um 17 Uhr am Paulinenbrunnen am Rupert-Mayer-Platz, Höhe Tübinger Straße 15

Tickets unter: https://citizenkanekollektiv.ticket.io/