Sven Mislintat kam im Mai 2019 als Sportdirektor zum VfB Stuttgart. Foto: Baumann/Hansjürgen Britsch

Beim VfB Stuttgart geht eine kleine Ära zu Ende. Der Vertrag mit Sven Mislintat wird nicht verlängert. Der Sportdirektor blickt zurück auf dreieinhalb Jahre VfB. Wir tun das auch – in aller Ausführlichkeit und mit dem Fokus auf die besonderen Meilensteine.

Vor etwas mehr als dreieinhalb Jahren hat Sven Mislintat den Job als Sportdirektor des VfB Stuttgart angetreten – und seitdem bewegte Zeiten erlebt. Abstieg, Aufstieg, Führungsstreit, Coronapandemie, Identitätsschwindel, Chefwechsel – es gab wenig, was es nicht gab seit Mai 2019.

Nun geht die Ära des mittlerweile 50-jährigen Westfalen beim VfB Stuttgart zu Ende. Mislintat hat sich mit dem Vorstandsvorsitzenden Alexander Wehrle nicht auf eine Verlängerung seines bis Ende Juni 2023 laufenden Vertrags einigen können. Den Weg, den der VfB mit dem Sportdirektor einst eingeschlagen hat, den Mislintat immer geschützt sehen wollte, muss der Club nun ohne den bisherigen Kaderplaner weitergehen.

Wir blicken zurück auf die Amtszeit von Sven Mislintat – und haben einige wichtige Daten und Ereignisse gefunden.

11. April 2019 Der VfB Stuttgart gibt bekannt, dass Sven Mislintat künftig als Sportdirektor für den Club arbeiten wird. Der heute 50-Jährige war zuvor bei Borussia Dortmund und beim FC Arsenal als Scout und Kaderplaner tätig gewesen. Mislintat, den das damalige Duo Thomas Hitzlsperger (Vorstandsvorsitzender)/Wolfgang Dietrich (Präsident) vom VfB überzeugt, unterschreibt bis Sommer 2021.

„Es ist eine Riesenherausforderung und zugleich eine große Ehre, für einen Club wie den VfB arbeiten zu dürfen. Ich bin im Umfeld von Traditionsclubs aufgewachsen, diese Atmosphäre ist mir sehr wichtig“, sagt Mislintat, „unser gemeinsamer Fokus liegt in den kommenden Wochen auf dem Kampf um den Klassenerhalt, natürlich geht der Blick aber auch schon auf die Planungen für die neue Saison.“

Noch vor Mislintats Amtsantritt Anfang Mai entlässt der VfB Trainer Markus Weinzierl. Nico Willig soll den Club als Interimscoach in der Liga halten.

Tim Walter – die erste Trainerentscheidung

20. Mai 2019 Schon vor dem Ende der Saison ist klar, wer den VfB in der neuen Spielzeit coachen wird. Der Club holt Tim Walter von Holstein Kiel. „Tim Walter kennt den Profifußball aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Er steht für leidenschaftliche Arbeit und eine offensive Grundausrichtung und er hat durch seine Stationen im Nachwuchsbereich auch einen sehr guten Blick und ein gutes Gespür für die Arbeit mit Talenten“, sagt Sven Mislintat, „wir haben uns in den vergangenen Wochen ein umfassendes Bild von Tim gemacht und viele gute Gespräche geführt. Wir sind sicher, dass Tim gut zum VfB passt und wir gemeinsam einiges bewegen können.“ Eine Einschätzung, die sich schon wenige Monate später als falsch erweisen wird.

28. Mai 2019 Der VfB erreicht die Relegationsspiele, kommt nach dem 2:2 im Hinspiel im entscheidenden Rückspiel aber nicht über ein 0:0 hinaus. Das Team steigt ab – und Sven Mislintat muss seine Planungen unter anderen Voraussetzungen als geplant beginnen.

Sommer 2019 Es ist die erste Transferperiode, auf die Sven Mislintat als Sportdirektor Einfluss hat – sie ist aber auch geprägt durch den Abstieg und daraus entstandene finanzielle Nöte. Vor Mislintat verpflichtete Spieler bringen ordentlich Geld in die Kasse, etwa Benjamin Pavard (35 Millionen Euro) und Ozan Kabak (15 Millionen Euro). Inklusive des Wintertransfers von Santiago Ascacibar werden rund 77 Millionen Euro erlöst. Für Neuzugänge gibt Sven Mislintat über 25 Millionen Euro aus, acht davon für Silas Katompa, sechs für Sasa Kalajdzic.

23. Dezember 2019 Nach dem letzten Vorrundenspiel der zweiten Liga (2:2 in Hannover) kündigt die VfB-Führung trotz Rang drei eine kritische Analyse der bisherigen Saison an. „Wir haben fünf Niederlagen und sind heute in der ersten Halbzeit knapp an der sechsten vorbeigeschrammt. Das ist nicht die Bilanz eines Aufsteigers. Der gesamte Prozess wird durchleuchtet“, sagt Sven Mislintat. Zwei Tage lang berät man sich, kurz vor 18 Uhr am Tag vor Heilig Abend steht dann fest: Der VfB trennt sich von Trainer Tim Walter. „Leistungsfußball unterliegt auch dem Diktat des Ergebnisses, der Entwicklung und des sportlichen Trends“, sagt Mislintat.

Der unbekannte Pellegrino Matarazzo

30. Dezember 2019 Der VfB verpflichtet als Nachfolger von Tim Walter den Italo-Amerikaner Pellegrino Matarazzo. Der bis dato eher unbekannte Co-Trainer von 1899 Hoffenheim erhält einen Vertrag bis Sommer 2021. „Wir sind überzeugt, dass Pellegrino Matarazzo unserer Mannschaft wichtige Impulse in der zweiten Liga geben kann“, sagt Sven Mislintat.

27. Mai 2020 Das Aufstiegsrennen ist mühsam, der Weg auch von sportlichen Rückschlägen gezeichnet. So verliert der VfB nach dem Ende des Lockdowns erst 1:2 beim SV Wehen Wiesbaden, dann 2:3 bei Holstein Kiel. Sven Mislintat reagiert mit einer ungewöhnlichen Maßnahme – und verlängert den Vertrag mit dem Trainer Pellegrino Matarazzo vorzeitig bis Sommer 2022.

„Seit seiner Ankunft im Januar denkt, lebt, arbeitet Rino Fußball, identifiziert sich mit seiner Aufgabe und dem VfB in einer Art und Weise, dass es für uns nur logisch und konsequent ist, unabhängig von kurzfristigen Resultaten die kommenden Jahre mit ihm zu arbeiten“, sagt Sven Mislintat, „diese Vertragsverlängerung ist ein Ausdruck dafür, dass wir von unserem Weg überzeugt sind, und dass sich jeder Verantwortliche, jeder Spieler und jeder Mitarbeiter zuerst selbst in die Verantwortung für den sportlichen Erfolg nimmt.“

Am Tag nach der Vertragsverlängerung schlägt das Team den Hamburger SV nach 0:2-Rückstand noch 3:2 und steigt am Ende der Saison auf.

Sommer 2020 In seiner zweiten Sommer-Transferperiode macht Sven Mislintat das einzige Mal ein Minus (rund 7,5 Millionen Euro). Es verlassen den VfB zum Beispiel Chadrac Akolo und Anastasios Donis. Dafür kommen unter anderen Gregor Kobel fix und Waldemar Anton. Ebenfalls wird Wataru Endo fest verpflichtet – für 1,7 Millionen Euro.

Ein neuer Vertrag bis 2023

12. Dezember 2020 Das 5:1 bei seinem Ex-Club Borussia Dortmund ist das sportliche Glanzlicht in der Ära Sven Mislintat beim VfB. Acht der Startelf-Spieler hat er nach Stuttgart geholt, sie symbolisieren an diesem Tag den Weg des VfB mit jungen und entwicklungsfähigen Talenten.

17. Dezember 2020 Der VfB verlängert den Vertrag mit Sven Mislintat vorzeitig bis 30. Juni 2023. „Er hat die Umstrukturierung des Kaders mit großer Motivation und Beharrlichkeit vorangetrieben und dabei neben seinem großartigen Fachwissen auch Mut und Weitsicht bewiesen“, sagt der damalige Vorstandschef Thomas Hitzlsperger und räumt seinem Sportdirektor in dem neuen Vertragswerk weitreichende Kompetenzen ein.

Sven Mislintat erklärt: „Diesen Weg wollen wir Schritt für Schritt weitergehen – wohl wissend, dass es auch Rückschläge geben kann und wird.“

30. Dezember 2020 Thomas Hitzlsperger attackiert als damaliger Vorstandschef der VfB AG den Clubpräsidenten und Aufsichtsratschef Claus Vogt hart und öffentlich. Es entwickelt sich ein beispielloser Führungsstreit beim VfB. Sven Mislintat schafft es, sich aus diesem heraus- und das Thema so gut es geht von der Mannschaft fernzuhalten. Das zahlt in einer recht sorgenfreien Saison aus.

19. Februar 2021 Bereits zum zweiten Mal verlängert der VfB Stuttgart den Vertrag mit dem Trainer Pellegrino Matarazzo – das gab es zuvor seit 14 Jahren nicht mehr. „Wer die Spiele des VfB anschaut, sieht, welch entscheidenden Faktor die Arbeit von Pellegrino Matarazzo ausmacht, um den gemeinsam beschlossenen Weg gehen zu können“, sagt Sven Mislintat, „Rino ist nicht nur in der Mannschafts- und Staff-Führung ausgezeichnet, sondern überzeugt immer wieder mit starken Ansätzen, den Gegner zu bespielen, und ist herausragend in der Entwicklung unserer jungen Talente.“

22. Mai 2021 Der VfB beendet die erste Saison nach dem Wiederaufstieg überraschend gut auf Rang neun. Sven Mislintat warnt, daraus für die kommende Spielzeit höhere Erwartungen abzuleiten. Das Ziel bleibe auch im zweiten Jahr der Klassenverbleib.

Richtungsstreit nach dem Hitzlsperger-Abschied

8. Juni 2021 Silas Katompa Mvumpa, bislang bekannt als Silas Wamangituka, erklärt, bislang unter falschem Namen beim VfB Stuttgart gespielt zu haben. Der Club macht die Geschichte öffentlich, sieht den Kongolesen als Opfer seiner früheren Berater und unterstützt ihn bei der Klärung der Angelegenheit.

„Das ist eine Dimension, die ich nicht gesehen habe. Wenn man das mit einer Überschrift Menschenhandel beschreibt, kommt man dem Thema relativ nahe“, sagt Mislintat und lobt seinen Schützling: „Er hat sich entschlossen, reinen Tisch zu machen, hat als junger Mensch die Verantwortung übernommen.“

Sommer 2021 In seiner dritten Sommer-Transferperiode macht Sven Mislintat ein ordentliches Plus. Ausgaben von rund 15 Millionen Euro – unter anderem für Florian Müller (5) und Wahid Faghir (3,5) – stehen Einnahmen von fast 41 Millionen Euro gegenüber. Top-Verkauf ist Nicolas Gonzalez, der für 24,5 Millionen Euro zum AC Florenz geht.

Herbst 2021 Nach der Abschiedsankündigung von Thomas Hitzlsperger als Vorstandsvorsitzender und Sportvorstand der VfB AG entbrennt eine Diskussion um die Frage, wer den Posten des Sportchefs der AG künftig übernimmt. Sven Mislintat legt keinen Wert auf das Amt, wehrt sich aber gegen eine Besetzung von außen. „Worum es mir geht, ist, dass der Weg, den Thomas Hitzlsperger, Markus Rüdt, Thomas Krücken, Pellegrino Matarazzo und ich zusammen begonnen haben und den wir auch nach Thomas’ Ausscheiden gerne weiter gehen würden, beschützt ist“, sagt er in einem Interview mit unserer Zeitung. Er ergänzt: „Ich sehe unseren sportlichen Weg am besten vertreten und seine Fortsetzung gewährleistet, wenn jemand aus unserer Gruppe Sportvorstand würde. Mir persönlich ist dieser Posten dabei nicht wichtig, und ich habe auf Nachfrage deutlich signalisiert, dass ich im Rahmen eines solchen Konstruktes bereit wäre, meinen Vertrag auch als Sportdirektor bis 2024 zu verlängern.“

Am Ende wird Alexander Wehrle Nachfolger von Hitzlsperger – und spielt wie sein Vorgänger eine Doppelrolle im AG-Vorstand.

Der neue Chef und seine Berater

Frühjahr 2022 Trotz der Rückkehr einiger bislang verletzter Spieler kann sich der VfB nicht aus der Abstiegszone herausarbeiten, die Kritik, auch am Trainer, wird lauter. Sven Mislintat, dessen Kaderplanung ebenfalls kritisch unter die Lupe genommen wird, verbindet daraufhin sein eigenes berufliches Schicksal mit dem von Chefcoach Pellegrino Matarazzo. Es gebe, sagt der Sportdirektor, beide nur im Doppelpack. Damit macht er ultimative Werbung für ein Festhalten am Coach trotz sportlicher Schwierigkeiten. Die Führung der AG folgt seiner Linie und setzt weiter auf Matarazzo.

14. Mai 2022 Der VfB schafft in einem emotionalen Thriller mit einem Tor von Wataru Endo in der Nachspielzeit am letzten Spieltag den Klassenverbleib. „Wataru Endo ist der Prototyp dessen, was wir von der Mentalität her sein wollen“, sagt Sven Mislintat. Gemeinsam mit dem Vorstandsvorsitzenden Alexander Wehrle kündigt er eine ehrliche Analyse der abgelaufenen Saison an. Nach dieser ist man sich einig, in der bestehenden Konstellation in der sportlichen Führung in die neue Saison zu gehen. Wehrle, der Vorstandsvorsitzende, kündigt aber auch an, man wolle sich in der Sportführung breiter aufstellen.

Frühsommer 2022 Der VfB bindet einige seiner mutmaßlichen Top-Talente aus dem Jahrgang 2005. Unter anderem Dennis Seimen, Laurin Ulrich und Samuele di Benedetto unterschreiben langfristige Verträge.

Sommer 2022 Auch in der bislang letzten Sommer-Transferperiode von Sven Mislintat gibt es einen satten Überschuss für den VfB. Unter anderem durch die Verkäufe von Sasa Kalajdzic (18 Millionen Euro) und Orel Mangala (13) kommen Einnahmen von rund 38 Millionen Euro zusammen. Ausgegeben werden dagegen rund zwölf Millionen Euro – unter anderem für die Festverpflichtung von Konstantinos Mavropanos für 3,2 Millionen Euro.

11. September 2022 Der Vorstandschef Alexander Wehrle verkündet auf der Mitgliederversammlung, dass künftig Sami Khedira und Philipp Lahm ihm als sportliche Berater zur Seite stehen. Zudem werde Christian Gentner ab Januar 2023 Leiter der Lizenzspielerabteilung. Sven Mislintat erfuhr spät von diesen Personalentscheidungen, die teils direkt seine Arbeit betreffen und reagiert zunächst via Instagram auf die Personalien: „Sehr cool, Euch ab jetzt im Team VfB zu haben. Insbesondere die Perspektive von absoluten Topspielern fehlte uns an verschiedenen Stellen seit dem Weggang von Thomas (Hitzlsperger; d. Red.). Ich freue mich auf die Zusammenarbeit!“

Die bittere Trennung vom Trainer

Wehrle entschuldigt sich im Nachgang für dieses Vorgehen. Man verkündet, entgegen der Planungen erst im November über die Vertragsverlängerung von Sven Mislintat über Sommer 2023 hinaus zu verhandeln. Schon vor der Mitgliederversammlung hatte der Sportdirektor offensiv Werbung in eigener Sache gemacht: „Ich glaube, dass ich eine gute Wahl bin. Ich weiß ziemlich genau, was ich bisher für einen Job gemacht habe für den VfB Stuttgart.“ Er fordert aber, dass in Zukunft nicht mehr so viel Geld aus Spielerverkäufen erlöst werden muss.

10. Oktober 2022 Nach neun Spielen in Folge ohne Sieg zum Start der neuen Bundesligasaison vollzieht der VfB die Trennung von Trainer Pellegrino Matarazzo – ein Schritt, der vor allem Sven Mislintat schwer mitnimmt. Der Sportdirektor informiert den Coach persönlich bei einem Glas Whisky. Am Tag danach sagt er: „Wir sind an einem Punkt angelangt, an dem wir davon überzeugt sind, dass die Trennung von Rino unausweichlich ist. Mir tut dieser Schritt extrem leid und ich möchte Rino an dieser Stelle ausdrücklich für seine großartige Arbeit für den VfB danken.“

Einen Nachfolger kann Mislintat nicht präsentieren. Es übernimmt der bisherige Co-Trainer Michael Wimmer, dessen Amtszeit als Interimschef bis zur WM-Pause verlängert wird.

Wie es mit dem Coach nun weitergeht, muss beim VfB als Nächstes entschieden werden. Erstmals seit über dreieinhalb Jahren ohne Sven Mislintat.