Am Sonntag warf Johannes Vetter von der LG Offenburg den Speer auf die zweitgrößte Weite, seit das neue Regelwerk von 1986 gilt. Foto: AFP/LUKASZ SZELAG

Johannes Vetter bleibt mit 97,76 Metern nur 72 Zentimeter unter dem Weltrekord von Jan Zelezny – Bundestrainer Boris Obergföll ist zuversichtlich, dass sein Schützling die Marke knacken kann. Es muss nur alles passen.

Stuttgart - Es gibt Tage, an denen gelingt einem Sportler eigentlich alles. Der 30. August 1991 war für Weitspringer Mike Powell so einer, da flog er 8,95 Meter weit in die Sandgrube. Oder der 16. August 2009 für Usain Bolt, als er die 100 Meter in 9,58 Sekunden abspulte. Oder der 25. Mai 1996, als Jan Zelezny den Speer auf 98,48 Meter schleuderte. Weltrekorde für eine (gefühlte) Ewigkeit. Johannes Vetter fehlten 73 Zentimeter, um eine Ewigkeit zu beenden. Lächerliche 73 Zentimeter. Der Speerwerfer der LG Offenburg warf das 800-Gramm-Gerät am Sonntag in Chorzow 97,76 Meter weit und blieb 72 Zentimeter hinter Zeleznys Marke. „Im ersten Moment dachte ich, mehr als 97 Meter, echt Wahnsinn und danach, schade, knapp am Weltrekord vorbei“, erzählt Vetter am Montag. „Und im dritten Moment kam mir der Gedanke, du hast Sportgeschichte geschrieben.“

Kann man sagen. Denn es war der zweitweiteste Wurf der Geschichte, nachdem der Leichtathletik-Weltverband den Schwerpunkt des Speers im April 1986 verschoben hatte – DDR-Mann Uwe Hohn hatte 1984 das Gerät 104,80 Meter weit fliegen lassen, der Verband befürchtete zu große Distanzen und beschnitt die Flugeigenschaften. „Eigentlich“, meint Boris Obergföll, „ist dieser Wurf der inoffizielle Weltrekord, denn er wurde in einem geschlossenen Stadion erzielt – Zeleznys Rekord war in einem offenen Stadion mit viel Windunterstützung.“ Obergföll darf das behaupten, er war einst als Aktiver in Jena dabei, und betont, dass er solche Bedingungen nie wieder erlebt hat. „Viele Leute haben daran gezweifelt, dass es möglich ist, in einem geschlossenen Stadion über 95 Meter weit zu werfen. Ich habe es geschafft, und ich glaube, es gibt noch viel Raum für Verbesserungen“, betont Vetter.

Der Bundestrainer will die Reserven freilegen

Boris Obergföll, sein Coach in Offenburg und zudem Bundestrainer, traut seinem Schützling tatsächlich mehr zu. Direkt nach dem Fabelwurf auf 97,76 Meter telefonierte er mit dem zweimalige Speer-Olympiasieger Andreas Thorkildsen, und beide philosophierten über das wie und das wann ein Wurf über die magische 100-Meter-Marke möglich sei. Diese fehlenden 2,23 Meter sind nicht unüberwindlich. „Johannes besitzt das Potenzial für den Rekord“, unterstreicht der 46-jährige Obergföll, „er hat Reserven, und die freizulegen, das ist mit meine Aufgabe.“

Manchmal aber sind Sportler an großartigen Leistungen, an Fabelrekorden zerbrochen, weil die Experten, die Fans und auch sie selbst sich immer wieder daran gemessen haben – dieses Niveau aber nie wieder erreichten. Bob Beamon, heute 74 Jahre alt, kam nie mehr auch nur annähernd an die 8,90 Meter, die ihn 1968 zum Weitsprung-Olympiasieger und für 23 Jahre zum Weltrekord-Inhaber kürten. Der 27 Jahre alte Vetter scheint diesbezüglich immun. Ist der gebürtige Dresdner verletzungsfrei, liefert er regelmäßig, wie die schwäbischen Kehrwoche wiederkehrt, Würfe über die 90 Meter.

Obergföll: „Johannes ist mental stark“

Obergföll, der den Sachsen seit 2014 im Badischen trainiert, ist überzeugt, dass der nicht daran zerbrechen wird, weil er nun landauf, landab als großer Favorit in jeden Wettkampf gehen wird. An diesem Dienstag wirft Johannes Vetter in Dessau, am Sonntag beim Istaf in Berlin – und jeweils wird er als der Mann abgestempelt, der die 100-Meter-Marke angreift. Alle werden es von ihm erwarten, und sie werden ungläubig schauen, wenn der Speer bei lediglich 88 Metern im Rasen steckt. „Ich denke“, sagt der Bundestrainer, „dass Johannes trotz dieser Erwartungshaltung locker bleiben wird. Er ist da mental stark genug.“

Das muss man sein als Speerwerfer. Denn die Streuung der Weiten kann mitunter größer sein als bei einer Schrotflinte. Mal sind es mehr als 95, dann bloß 83 Meter, was an der Komplexität der Disziplin liegt. „Ein kleiner technischer Fehler kann große Folgen haben, manchmal läuft der ganz unbewusst ab“, sagt Obergföll, „andererseits kann man sich schnell verbessern, wenn man diese Fehler minimiert.“ Zwangspausen, Vetter plagte von Mitte 2018 bis 2019 eine Fußverletzung, bremsen einen Athleten zusätzlich. Aber nicht immer. „Rückblickend war der Corona-bedingte Ausfall der Sommerspiele in Tokio erfreulich“, sagt der WM-Dritte von 1995 und 2003, „so konnten wir viel Technik trainieren und hatten genug Ruhepausen.“

Die Spiele werden im August 2021 voraussichtlich nachgeholt, und wenn nichts Schlimmes geschieht, wird Vetter als Favorit in Japan antreten. Als der Mann, der 97,76 Meter warf. Wenn ihm dann kein technischer Fehler unterläuft, er sein Potenzial voll abruft und der Wind günstig steht – dann könnte der Speer weiter als 98,48 Meter fliegen. Vielleicht sogar weiter als 100 Meter.