„Hat Deutschland noch die richtige Corona-Strategie?“, das hat Anne Will am Sonntagabend ihre Gäste gefragt. Foto: obs/Wolfgang Borrs

„Hat Deutschland noch die richtige Strategie?“, das hat ARD-Talkerin Anne Will ihre Gäste gefragt. Was ist die Alternative, konterte Armin Laschet. Gerhart Baum sieht in der Pandemie längst nicht mehr nur eine Gefahr für die Gesundheit.

Stuttgart - Eigentlich wäre auch Anne Will am Sonntag in den Herbstferien gewesen. „Aber die Infektionszahlen steigen in einem Tempo, dass wir wissen wollen, ob Deutschland wirklich noch die richtige Strategie hat“, sagte die Talkshow-Moderatorin zu Beginn der Corona-Sondersendung in der ARD. Diese Strategiefrage diskutierte sie mit dem nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Armin Laschet (CDU), Berlins Regierendem Bürgermeister Michael Müller (SPD), dem ehemaligen Bundesinnenminister Gerhart Baum (FDP), der Virologin und Gründungsgeschäftsführerin des Wuppertaler Biotechnologieunternehmens AiCuris Helga Rübsamen-Schaeff, dem Philosophie-Professor Julian Nida-Rümelin und der Wiesbadener Gesundheitsamts-Chefin Kaschlin Butt. Dabei verwies Anne Will auf den neuerlichen Appell der Kanzlerin, den Angela Merkel in der vorigen Woche per Podcast unters Volk gebracht hat: „Bleibt zuhause.“ Reiche das aus – und sei das überhaupt noch richtig?

Jeder einzelne ist gefragt, sagt Armin Laschet

Eine Kontroverse kam darob indes nicht zustande. Was ist die Alternative, fragte Laschet, der unmittelbar vor Sitzungsbeginn von einer Krisensitzung mit seinen Mitbewerbern um den CDU-Vorsitz im Konrad-Adenauer-Haus ins Studio gekommen war, zurück. Die vergangenen Monate hätten gezeigt, es sei im Frühjahr ein Fehler gewesen, sofort Schulen und Kindertageseinrichtungen zu schließen. Stattdessen sei der Freizeitbereich stärker in den Fokus gerückt. Jeder einzelne sollte jetzt mal „zwei bis drei Wochen gar nichts mehr machen, um die Kurve wieder abzuflachen“. Die Christdemokraten, meinte Laschet, sollten dabei mit gutem Beispiel vorangehen – und auf den geplanten Präsenzparteitag am 4. Dezember in Stuttgart verzichten: Einer Haltung, der sich der CDU-Vorstand am Montagmorgen anschloss und den Parteitag erst einmal absagte. Letztlich bleibe nur der Appell an die Menschen, ihr Verhalten zu ändern – konsequenter die Masken zu tragen und auf Kontakte zu anderen soweit wie möglich zu verzichten. Die eine Maßnahme, die das Infektionsgeschehen eindämmen könne, die gebe es nicht: „Das ist eine Illusion.“

Berlins Bürgermeister: „Politik kommt an ihre Grenzen“

Anders als im Frühjahr „haben wir die Erkenntnisse und Möglichkeiten anders zu reagieren als pauschal“, sagte Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller. Anders als in Nordrhein-Westfalen dürfen in der Hauptstadt deshalb noch mehr als 100 Menschen ins Theater. Solche Veranstaltungen seien nicht das Problem, „unser Problem sind die ungeordneten Kontakte“ – wie sie etwa bei den illegalen Ravepartys in den Berliner Parks zustande kommen. „In einer vier-Millionen-Stadt kann man nicht jeden Park lückenlos kontrollieren“, so Müller, „Politik kommt an ihre Grenzen. Wir können nur einen Rahmen setzen.“

Baum: „Sie handeln nicht nach unserer Verfassung“

Der sollte aber nachvollziehbar sein, forderte Gerhart Baum. Es sei für niemand verständlich, warum man in Köln etwa in vollen Straßenbahnen sitze, ein Konzert in der Philharmonie mit ihren 2200 Plätzen nur von 250 Menschen besucht werden dürfe. „Wir müssen die Leute überzeugen aus eigener Verantwortung“, schließlich werden wir „auf Dauer anders leben“ als wir es gewohnt seien. Dafür bräuchten die Menschen aber auch Freiräume. Die Ministerpräsidenten hätten diese Krise zwar bisher gut gemanagt. „Aber, meine Herren“, sagte er an Müller und Laschet gewandt, „im Moment sind Sie dabei, nicht nach unserer Verfassung zu handeln.“ Die Politik könne nicht weiterhin so viele Grundrechtseingriffe beschließen, ohne die Parlamente zu beteiligen, damit laufe man Gefahr, unser demokratisches System zu verändern. „Gehen Sie jetzt in Ihre Parlamente und lassen die entscheiden“, appellierte der Alt-Liberale. Und falls schnelle Entscheidungen notwendig seien, „dann lassen Sie die zumindest bestätigen“. Das erhöhe auch die Akzeptanz für die Corona-Maßnahmen in der Bevölkerung.

Nida-Rümelin: Infektionsschutz vor Datenschutz

Der Akzeptanz förderlich wäre es auch, das meinte Julian Nida-Rümelin, wenn man sich der Technologie des 21. Jahrhunderts bedienen und die Gesundheitsämter mit digitalen Tools ausstatten würde, die eine schnelle und effiziente Nachverfolgung der Kontaktpersonen ermögliche. Stattdessen würden Datenschutzfragen über Grundrechtsverletzungen gestellt, so der ehemalige Kulturstaatssekretär (SPD) im Kabinett Gerhard Schröders. „Hier geht es um berufliche Existenzen, um Bildungszukunft“, kritisierte er. „Die Menschen sterben, ohne dass sie besucht werden können.“ In Zeiten der Pandemie „hilft nur eine Tracking-App und keine Zettelwirtschaft bei den Gastwirten“, so Nida-Rümelin. Er vertraue den staatlichen Institutionen, dass diese die Daten angemessen behandle: „Die Gesundheitsämter haben gerade anderes zu tun als außereheliche Kontakte nachzuverfolgen.“

Virologin fordert Ausweitung der Maskenpflicht

Das war Wasser auf den Mühlen von Kaschlin Butt, der Leiterin des Wiesbadener Gesundheitsamtes. Ihre Mitarbeiter schafften es angesichts der steigenden Infektionszahlen nicht mehr, die Kontaktpersonen zeitnah zu informieren – was die Infektionszahlen weiter steigen lasse. „Wir hätten uns mehr digitale Unterstützung gewünscht“, sagte sie, der Datenschutz sei über den Infektionsschutz gestellt worden. „Wir können Menschen befragen, wen sie getroffen haben“, sei dabei aber auf das Erinnerungsvermögen der Einzelnen angewiesen. Falls der Betroffene eine Straßenbahn benutzt habe, funktioniere eine Zuordnung schon nicht mehr – mit einer Tracking-App hingegen schon. „Das macht ärgerlich“, sagte sie, „denn die Technik könnte viel mehr.“

„Wir stehen erst am Anfang“

AiCuris-Chefin Helga Rübsamen-Schaeff setzte auf die Wissenschaft. „Die wird das lösen“, sagte sie – aber nicht so schnell. Die Virologin forderte, die Maskenpflicht zu verschärfen und die Einhaltung der Pflicht stärker zu kontrollieren. Masken sollten überall getragen werden müssen, wo viele Menschen sind – auch auf den Straßen. Außerdem solle das Tragen von FFP2-Masken Pflicht werden, die nicht nur anderen, sondern auch für den Träger selbst einen gewissen Infektionsschutz böten. Auch ein flächendeckender Einsatz von Schnelltests könne beitragen, das Ausbreiten der Pandemie einzudämmen. Dafür werde aber ein langer Atem notwendig sein – das schon deshalb, weil es die Schnelltests noch gar nicht in dem erforderlichen Maße gibt. Zehn Millionen werden in den kommenden Tagen in Deutschland ausgeliefert, das reicht indes nur bis Dezember für Tests allein bei den so genannten vulnerablen, besonders anfälligen Gruppen. „Wir sind da im Januar nicht durch, wir sind auch im Juni noch nicht durch“, erwartet die Virologin. Im Gegenteil: „Wir stehen erst am Anfang.“