Anna Kimmich musste lernen, die Beleidigungen der Jungs nicht zu nah an sich heranzulassen. Foto:  

Anna Kimmich studiert Soziale Arbeit an der Evangelischen Hochschule in Ludwigsburg. Ihr Praxissemester absolviert sie bei „Scout am Löwentor“. Hier landen Jungs im Alter zwischen 12 und 17 Jahren, die zuvor durch sämtliche Raster gefallen sind.

Schon vom ersten Tag an merkte ich, dass Nico nicht gut auf mich zu sprechen war. Aber diesen Ausraster des 15-Jährigen habe ich echt nicht kommen sehen. „Du Fehlgeburt!“, schreit er und wirft eine Flasche Glasreiniger nach mir. Er will übers Wochenende zu seiner Mutter und daher den Putzdienst früher anfangen. Um 12.37 Uhr hat er mich nach dem Besen gefragt. Im Wochenplan ist jedoch festgelegt, dass der um Punkt 13 Uhr ausgegeben wird. Also sagte ich: „Du musst warten.“ Da tickte er aus.

Ich lauf das Treppenhaus runter und hol meinen Kollegen Ruben. Als wir wieder oben sind, redet Ruben mit Nico, dann sprechen wir zu dritt über den Vorfall. Alles wegen 23 Minuten. Das mag pingelig erscheinen, aber so ist unsere Struktur, minutengenau getaktet von 7 Uhr früh bis zur Nachtruhe um 22.15 Uhr . Das tut Jungs wie ihm gut, gibt ihnen Halt. Alles, was sie tun und lassen, hat Konsequenzen: ist er pünktlich im Zimmer, gibt es drei Punkte, kommt er fünf Minuten zu spät zwei Punkte, zehn Minuten später nur einen und alles danach gibt null Punkte. Es gibt auch die Kategorie „Verhalten gegenüber anderen“. Beschimpft er mich als „dumm“, zieh ich ihm einen Punkt ab, für „dumme Nutte“ gibt es zwei Punkte Abzug. Das Wochenende zuhause wird abgesagt, stattdessen steht er unter „Schutzstufe“, das bedeutet: zwei Tage kein Handy, kein Fernsehen, kein Ausgang und telefonieren nur bei uns im Büro und mit Lautsprecher.

Die Jungs kommen meistens von selbst wieder zurück

„Scout Am Löwentor“ ist eine teilgeschlossene Kinder- und Jugendhilfeeinrichtung der Evangelischen Gesellschaft in Stuttgart für zwölf Jungen zwischen 12 und 17 Jahren. Sie leben in Wohngruppen, jeder im eigenen Zimmer – und sind bisher durch alle Roste gefallen. Sie leben mit Wut auf die Welt und auf sich selbst. Niemand hielt es mit ihnen aus, und sie hielten es mit niemandem aus. Scout bietet seit 2005 für Jungs wie sie intensivpädagogische Hilfe an. Eine Schule mit drei Lehrkräften für drei Klassen gehört dazu, eine Außenstelle der Schule für Erziehungshilfe aus Heidenheim. Die Jungs können den Hauptschulabschluss machen und viele tun es. Die Häuserblöcke und das Gelände darum sind eingezäunt. Manchmal klettert einer drüber. Und kommt doch wieder zurück. Wohin soll er auch?

Die Jugendlichen leben in Wohngruppen, haben aber jeweils Einzelzimmer. Foto: Mambo Photo/Sven Creutzmann

Im Erdgeschoß sind Schulräume, Küche und Speisesaal. Oben die Zimmer der Jungs, Badezimmer und Büros. Alles ziemlich karg, Gitter vor den Fenstern. Sie sollen sich hier nicht zuhause fühlen. Gelegentlich geht was zu Bruch, deshalb steht nicht viel Zerbrechliches rum, nichts hängt an der Wand.

Nicht alle haben eine glückliche und behütete Kindheit

Seit sechs Monaten bin ich hier im Praxissemester und immer wieder werde ich von Nico als „Schlampe“, „Fehlgeburt“ und „behinderte Praktikantin“ beschimpft. Mein Teamleiter, Sozialarbeiter Patrick Rosner, hat mir erklärt, dass ich differenzieren müsse: die Jungs haben nicht ein Problem mit mir, sondern mit ihrer Situation. Sie prüfen mich: Wie reagiert die Neue? Wie weit kann ich gehen? Ich stellte mich darauf ein, das war schon hart. Ich bin sensibel, heul schon, wenn ich „König der Löwen“ im Kino seh. Trotzdem konnte ich das verkraften. Ich bin so anders aufgewachsen als die Jungs hier. Auf einem Bauernhof im Schwarzwald mit Schafen, Schweinen, Puten, Gänsen, Enten, Katzen, Hasen, Meerschweinchen und Wachteln – wie in Bullerbü. Meine Eltern mögen sich, mein Vater ist Pastor, meine Mutter besucht ehrenamtlich Menschen im Pflegeheim, meine Geschwister sind Sozialarbeiter, Krankenschwester und Lehrerin. Warum habe ich mir „Scout“ ausgesucht? Vielleicht grade deswegen. Ich hatte es gut. Andere hatten nicht so viel Glück.

„Scout“ ist eine der letzten pädagogischen Maßnahmen, die es im Rahmen der Jugendhilfe überhaupt gibt. Wenn weder ambulante Therapie, noch Familienhilfe, Tageswohngruppe, oder ein Schulwechsel greift, bliebe nur noch die geschlossene Psychiatrie oder der Jugendstrafvollzug. Denn sie haben alle was ausgefressen. Diebstähle, Schlägereien, Drogenmissbrauch, Dealen… Warum tun sie das?

„Hört sich zwar hart an, aber Kuschelkurs ist nicht gut“

Nico zum Beispiel. Dünn und schlaksig, blonde Locken. Seine Akte liest sich wie ein Weltuntergang, man möchte Nico nur noch in den Arm nehmen. Was man aber nicht darf. „Wir sind kein Familienersatz“, sagt Patrick Rosner. „Ich bin Trainer, nicht Bruder oder Vater.“ Manchmal sei das schade: „Ich habe einen Jungen zwei Jahre lang durch alle Höhen und Tiefen begleitet, an seinem letzten Tag spürte ich, er möchte jetzt, dass wir uns zum Abschied drücken. Aber ich tat es nicht. Sonst wäre es ihm noch schwerer gefallen, zu gehen.“ Diese körperliche Grenze ist klar definiert. „Hört sich zwar hart an, aber Kuschelkurs ist nicht gut. Wir legen nicht mal einem die Hand auf die Schulter. Man weiß nicht, wie die Jungs reagieren. Oft eskaliert die Situation dann.“

Sozialarbeiter Patrick Rosner sagt über seine Arbeit: „Ich bin Trainer, nicht Bruder oder Vater.“ Foto: Mambo Photo/Sven Creutzmann

Auf jeden Jungen kommen drei Betreuende. Kommt einem viel vor. Aber es geht Tag für Tag rund um die Uhr. Wir arbeiten mit dem „Token Economy Program“. Es belohnt positives Verhalten. Je mehr Punkte, desto mehr Privilegien gibt es. „Tokens“ verbinden erwünschtes Verhalten mit Privilegien. Wenn einer beispielsweise müffelt, reden wir mit ihm: „Schau mal, das ist eklig, du gehst nie duschen. Komm, wir besorgen dir ein Duschgel, das gut riecht, du darfst es selbst aussuchen. Und Badeschlappen.“

Von der Wohngruppe zur Mutter und weiter in die Psychiatrie

Nicos Weltuntergang: Die Eltern trennen sich, als er drei ist. Der Vater zieht aus, die Mutter zieht mit den beiden Söhnen in eine kleinere Wohnung. Als Nico in der ersten Klasse ist, hatt sie einen neuen Partner und zieht nach Ulm, wieder eine andere Wohnung, wieder eine neue Schule. Das Verhältnis zwischen den Eltern ist schlecht, die Mutter verbietet den Kontakt zum Vater. Nico ist schon in der Grundschule verhaltensauffällig und muss in die Sonderschule wechseln. Mit zehn der nächste Umzug, weil der Stiefvater den Job wechselt. Mit 12 schlägt Nico schließlich einen Mitschüler krankenhausreif.

„Das klingt dramatisch,“, so Patrick Rosner, „aber man muss vorsichtig sein“. Häufig sei das eine Verzweiflungstat. Ein Schrei nach Aufmerksamkeit. Nico fliegt aus der Schule, kommt in eine Psychiatrische Klinik, nach sechs Wochen „zur Probe“ zu seinem Vater, der allein lebt. Der hält sich an keine Auflagen, schlägt Nico, hält das Besuchsrecht bei der Mutter nicht ein. Nach drei Monaten schreitet das Jugendamt ein. Ein „Hopping“ durch die Jugendhilfe beginnt: aus der ersten Wohngruppe fliegt Nico nach zwei Wochen, aus der nächsten haut er nach vier Wochen ab – in der Akte steht was von Alkohol- und Drogenmissbrauch. Kurz wohnt er bei der Mutter, zwei Monate in einer Pflegefamilie und schließlich wieder in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Er wird medikamentös eingestellt, weil er wohl ADHS hat. Aber noch nicht die „Betonspritze“, von denen andere Jungs erzählen, die in der Jugendpsychiatrie waren. Wenn sie die kriegten, waren sie weg – starr wie Beton.

Die Eltern müssen mitarbeiten – was nicht immer klappt

Im Oktober 2022 kommt er zu Scout. „Da saß ein super verschüchtertes Kind vor mir, das nicht wusste, was jetzt mit ihm passiert“, sagt Patrick Rosner. Das ist oft so. Die Jungs halten sich zurück, müssen sich orientieren, Rangordnung und Regeln erkennen.

„Wir verfolgen hier einen systemischen Ansatz“, erklärt Patrick Rosner. Die Eltern dürfen nicht denken, ihr Sohn werde geparkt und hat nach zwei Jahren gelernt, wie es geht. „Wenn er als Rädchen zurückkommt und an derselben Stelle eingesetzt wird, hakt das System ja immer noch. Deshalb müssen auch die Eltern mit uns arbeiten.“ Das funktioniert nicht immer. Wenn die Mutter säuft und der Vater prügelt, sind sie mitunter schwer zu erreichen. Wobei es nicht nur prekäre Verhältnisse sind, wie die einer achtköpfige Großfamilie, die in einer Zweizimmerwohnung haust. Auch wenn Kinder überbehütet werden, kann es ihnen so eng werden, dass sie ausbrechen müssen.

Neulich habe ich den Film „Systemsprenger“ gesehen. Die neunjährige Benni landet wegen ihrer Wutanfälle immer wieder in Pflegefamilien. Sie will zur Mutter zurück, doch die fürchtet, dass sie die Geschwister verletzt und hat sie abgegeben. An diesen Film muss ich immer wieder denken. Sind unsere Jugendlichen Systemsprenger? „Ich halte von dem Begriff nicht viel“, sagt Patrick Rosner. „Denn sie sprengen das System nicht. Das System läuft weiter, nur sie fallen raus“.

Nicht nur von den Fachkräften gelernt

Ich weiß, ich kann nicht die Welt retten. Aber ich habe von den Jugendlichen mindestens so viel gelernt wie von den Fachkräften. Nicht zu nah dran zu sein und doch emotional erreichbar zu bleiben. Eine gute Beziehung aufzubauen, etwas gemeinsam erleben, damit pädagogische Arbeit möglich ist. Ich habe sie ins Herz geschlossen, bin mit meinen 23 Jahren ja nur wenig älter als sie.

Weil ich die Akte kenne, verstehe ich, dass Nico nach den Umzügen und Schulwechseln keine Lust auf Veränderungen hat. Warum er die Flasche nach mir warf: ich gehörte zu den Neuen. Inzwischen hat er sich an mich gewöhnt. Ich begleite ihn zum Skatepark, und spiele mit ihm Minecraft. Vergangene Woche saßen wir nebeneinander an der Konsole und er sagt plötzlich zu mir: „Frau Kimmich, wir sind ja ein richtiges Dream-Team.“ Für so einen Moment arbeite ich hier.

Deutschlandweit gibt es knapp 30 (teil-) geschlossene Einrichtungen für Jugendliche, die mit freiheitsentziehenden Maßnahmen arbeiten. 15 für Jungen, acht für Mädchen und ein Viertel für gemischte Gruppen. Bei Scout selbst arbeiten circa 30 Sozialarbeiter*innen, Jugend- und Heimerzieher*innen, Sozialpädagog*innen, Psycholog*innen und Lehrkräfte.

Studentinnen im Praxissemester

Jugendhilfe
Deutschlandweit gibt es knapp 30 (teil-) geschlossene Einrichtungen für Jugendliche, die mit freiheitsentziehenden Maßnahmen arbeiten. 15 für Jungen, acht für Mädchen und ein Viertel für gemischte Gruppen. Bei Scout selbst arbeiten circa 30 Sozialarbeiter*innen, Jugend- und Heimerzieher*innen, Sozialpädagog*innen, Psycholog*innen und Lehrkräfte.

Serie
Diese Reportage ist die erste Folge einer Serie, die in Kooperation mit der Evangelischen Hochschule Ludwigsburg entsteht. Sie dreht sich darum, was Studierende der Sozialen Arbeit in ihrem fünften, dem Praxissemester erleben.