Viele hätten sie gerne, aber dann kommt doch alles oft ganz anders: eine harmonische Scheidung. Warum diese nicht immer gelingen mag – und inwieweit Kinder dabei auch missbräuchlich behandelt werden können.
Laut Daten des Portals Statista hält nicht mal mehr jede zweite Ehe und: Ehen gehen auch immer früher in die Brüche – die betroffenen Kinder sind dadurch ebenfalls mitunter noch sehr jung. Dr. Stefan Rücker ist ein deutschlandweit bekannter Kinderpsychologe und berät Familien in Trennungssituationen. Eine seiner Klientinnen ist die bekannte Unternehmerin Christina Block, die mit ihrem Exmann seit Jahren einen Sorgerechtsstreit um die Kinder führt. Drei von vier Kindern leben aktuell bei dem Vater in Dänemark. Im Interview mit unserer Zeitung spricht der Experte über das Thema Scheidung und Kinder.
Das jüngste Kind von Christina Block war zum Zeitpunkt der Trennung 2014 gerade einmal drei Monate Jahre alt, das älteste sieben. Beginnen wir mit einer allgemeinen Frage: Sind Trennungen der Eltern für Kinder leichter oder schwerer, wenn sie noch jünger sind?
Die Zahl an Scheidungen von Paaren mit minderjährigen Kindern nimmt tatsächlich ab. Gleichzeitig nimmt die Zahl an Trennungen von unverheirateten Paaren mit minderjährigen Kindern zu. Die Folgen für Kinder sind abhängig von Alter und Geschlecht.
Was belastet Kinder am meisten bei einer Trennung und wie kann sich dies äußern?
Kleinere Kinder machen sich oft selbst verantwortlich dafür, dass die Eltern ihre Verbindung auflösen, was Verzweiflung auslöst, Trennungsangst und anklammerndes Verhalten. Ältere Mädchen reagieren häufig zunächst somatoform, das heißt, körperlich. Hier können oftmals Kopf- und Bauchschmerzen festgestellt werden, aber auch Übelkeit und Erbrechen, was Hinweise auf eine Depression sein können. Auch Essstörungen kommen vor. Jungen dagegen agieren ihre Belastungen häufig sichtbar aus, in dem sie schwieriges Sozialverhalten entwickeln und opponieren.
Was können Eltern tun, um ihre Kinder in dieser Trennungsphase und auch danach bestmöglich zu unterstützen?
Nahezu trivial, und wird doch oft übersehen: Eltern sollten ihren Kindern vermitteln, dass sie nicht schuld an der Trennung der Eltern sind. Wenn nicht gewichtige Gründe, wie zum Beispiel Gewalt oder andere übergriffige Verhaltensweisen, dagegen stehen, sollten Kinder nach der Trennung ausreichend Kontakt zu beiden Elternteilen haben dürfen. Allein diese beiden Maßnahmen führen bereits dazu, dass sich bei 70 Prozent der Kinder die trennungsbezogenen Belastungen allmählich zurückbilden.
Was sind die häufigsten Fehler, die Eltern machen?
Trennungen/Scheidungen sind für nahezu alle Eltern als auch Kinder herausfordernde Schwellensituationen. Gelingt es Eltern nicht, das Konfliktniveau zu reduzieren, und binden sie gleichzeitig ihre Kinder in diesen Konflikt ein, führt dies mittel- als auch langfristig zu bedeutsamen Belastungen auf Seiten der Kinder.
Christina Block hat durch den Sorgerechtsstreit ihre Kinder teilweise jahrelang nicht gesehen. In diesem Zusammenhang fällt immer wieder das Wort „Entfremdung“ (PAS). Was versteht man darunter?
Bei PAS oder Entfremdung werden die gemeinsamen Kinder von einem Elternteil in den Erwachsenenkonflikt einbezogen und offen oder subtil gegen den anderen Elternteil beeinflusst. Besonders suggestible Kinder sind hierbei leicht zu irritieren. Kleinere Kinder können oft nicht unterscheiden, ob sich negative Erlebnisse mit dem anderen Elternteil tatsächlich ereignet haben, ob sie es geträumt haben, oder ob es ihnen erzählt wurde.
Diese Beeinflussbarkeit führt dazu, dass Kinder eine ungesunde Distanz zu dem betroffenen Elternteil entwickeln. Kinder spüren zudem die starken Vorbehalte eines Elternteils gegen den anderen und lösen den daraus resultierenden Loyalitätskonflikt durch Kontaktabbruch auf, obwohl zuvor eine liebevolle Bindung und Beziehung zu diesem Elternteil bestand. Es muss nicht besonders betont werden, dass solche Konstellationen deutlich abzugrenzen sind von Fällen, wo Kontaktabbrüche zwischen Kindern und Elternteilen vorübergehend oder dauerhaft geradezu notwendig sind. Hierzu zählen beispielsweise sexuelle Übergriffe und sonstige gewalthaltige Verhaltensweisen von Elternteilen.
Es gibt in Deutschland nach wie vor viele Menschen, die PAS nicht anerkennen und sagen, dass es so etwas nicht gibt. Wie gehen Sie mit dieser Kritik um?
Im nationalen sowie internationalen Diskurs zu diesem Problempunkt bestehen epochale Ungleichzeitigkeiten. Empirisch steht Deutschland ganz am Anfang dieser Debatte, während es international schon seit Jahrzehnten wissenschaftliche Belege für die Existenz von Kontaktabbrüchen zwischen Kindern und Elternteilen nach Trennung oder Scheidung gibt, und zwar ohne, dass die abgelehnten Elternteile übergriffig sind.
Manche Lobbygruppen missbrauchen die Diskussion und versuchen über verzerrtes Framing die Entfremdung von Kindern und Elternteilen zu bagatellisieren und als unwissenschaftlich zu bannen. Solche Versuche unterschätzen jedoch das Leid der Betroffenen und wirken wie Faustschläge in die Gesichter der zahllosen betroffenen Kinder, Mütter und Väter. Sämtliche Verfahrensbeteiligte wie Fachkräfte in Jugendämtern, Anwält:innen, Sachverständige, Richter:innen und Verfahrensbeiständ:innen kennen das Phänomen aus der Praxis.
Der europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat übrigens bereits vor Jahren die Existenz von Eltern-Kind-Entfremdung festgestellt und im konkreten Fall einer betroffenen Mutter 12.000 Euro Schadensersatz zugesprochen. Wie gesagt, in Deutschland sind wir von solchen internationalen Maßstäben Lichtjahre entfernt, weshalb die Bundesrepublik Deutschland auch bereits wiederholt wegen Menschenrechtsverstößen im Zusammenhang mit Entfremdung abgemahnt wurde.
Idealerweise strebt man eine harmonische Trennung an. Betroffene berichten aber immer wieder, dass sie versuchen, wegen der Kinder eine gütliche Einigung und Umgangsregeln zu finden, dies aber mit dem Expartner nicht möglich ist. Wie sollte man denn mit schwierigen, wenn nicht sogar psychisch auffälligen Expartnern umgehen, die möglicherweise machtmissbräuchlich auch die Kinder instrumentalisieren?
Zunächst ist es ratsam, professionelle Unterstützung in Anspruch zu nehmen. Eine Mediation durch geschulte Fachkräfte kann helfen, neutrale und faire Vereinbarungen zu treffen, die das Wohl der Kinder in den Vordergrund stellen. Wenn Mediation keine Option ist, weil der Ex-Partner nicht kooperiert oder psychisch auffällig ist, kann die Hinzuziehung eines Familienrechtsanwalts notwendig werden. Dieser kann rechtliche Schritte einleiten, um verbindliche Umgangsregelungen zu etablieren und deren Einhaltung zu gewährleisten.
Es ist ebenso wichtig, eine klare und detaillierte Dokumentation aller Vorfälle und Kommunikationen mit dem Ex-Partner zu führen. Diese Aufzeichnungen können bei rechtlichen Auseinandersetzungen von entscheidender Bedeutung sein und helfen, ein konsistentes und nachprüfbares Muster des Verhaltens des Ex-Partners aufzuzeigen. Eine weitere essenzielle Maßnahme ist der Aufbau eines stabilen Unterstützungsnetzwerks. Dies kann aus Freunden, Familie und professionellen Beratern bestehen, die emotionalen Beistand leisten und praktische Hilfe bieten können. Ein solches Netzwerk kann auch dazu beitragen, den eigenen Stress zu mindern und bessere Entscheidungen im Interesse der Kinder zu treffen. Im Umgang mit den Kindern sollte man versuchen, ihnen ein sicheres und liebevolles Umfeld zu bieten, frei von den Konflikten der Eltern.
Offene und altersgerechte Kommunikation ist entscheidend, um den Kindern zu helfen, die Situation zu verstehen und ihre Gefühle zu verarbeiten. Es ist wichtig, ihnen zu versichern, dass sie keine Schuld an der Trennung tragen und dass beide Elternteile sie weiterhin lieben. In Fällen, in denen Ex-Partnerschaften psychisch auffällig sind, kann auch psychologische Unterstützung für die Kinder notwendig sein. Therapeutische Unterstützung kann den Kindern helfen, die Situation zu bewältigen und gesunde Bewältigungsmechanismen zu entwickeln. Letztlich sollte man klare Grenzen setzen und darauf bestehen, dass diese respektiert werden. Dies kann auch bedeuten, den Kontakt zur Ex-Partnerschaft auf das Nötigste zu beschränken und alle Interaktionen auf einer professionellen und sachlichen Ebene zu halten.
Wird weiterhin manipulativ oder missbräuchlich agiert, sollten rechtliche Schutzmaßnahmen in Erwägung gezogen werden, um die Sicherheit und das Wohl der Kinder zu gewährleisten. Es erfordert Mut und Entschlossenheit, diesen Herausforderungen zu begegnen, aber durch strategisches Handeln und die Inanspruchnahme professioneller Unterstützung können die negativen Auswirkungen auf die Kinder minimiert werden.
Kann auch der Rechtsstaat und die Jugendämter, wenn man an die zahlreichen Fälle bei Familiengerichten, wenn es um das Sorgerecht geht, denkt, etwas tun, um Kinder besser durch eine Trennung zu begleiten?
Der Rechtsstaat und die Jugendämter spielen eine entscheidende Rolle bei der Begleitung und Unterstützung von Kindern in familiären Konflikten, insbesondere in Sorgerechtsfällen. Mit dem Gesetz zur Ächtung von Gewalt in der Erziehung (wozu auch psychische Gewalt wie Entfremdung zählt; §1631 BGB), dem Recht der Kinder auf Umgang mit beiden Elternteilen (§1684 BGB ) und einigen anderen mehr besteht bereits eine ausreichend gute Rechtsgrundlage.
Die zusätzliche Implementierung kinderfreundlicher und sicherer Verfahren können außerdem dazu beitragen, dass das Wohl der Kinder im Vordergrund steht. Spezialisierte Schulungen für Richter, Anwälte und Sozialarbeiter sind von großer Bedeutung, um ein tieferes Verständnis für die spezifischen Bedürfnisse und Herausforderungen von Kindern in hochkonflikthaften Trennungen zu gewährleisten.
Zudem sollten Mediations- und Beratungsdienste verstärkt werden, um betroffene Familien frühzeitig zu unterstützen und Eskalationen zu vermeiden. Durch präventive Maßnahmen und Aufklärungsarbeit über die Folgen von familiären Konflikten und Gewalt kann der Rechtsstaat dazu beitragen, das Bewusstsein zu schärfen und präventiv tätig zu werden. Solche Maßnahmen können wesentlich dazu beitragen, dass Kinder in Krisensituationen besser geschützt und begleitet werden, um ihre psychische und physische Gesundheit zu gewährleisten.
Es gibt Menschen, die sich oft auch aus Angst dafür entscheiden, sich nicht zu trennen. Welche Folgen kann ein Aufwachsen in einem Elternhaus für Kinder haben, in welchem sie emotionale und physische Gewalt (mit-)erleben?
Ein von Gewalt geprägtes Aufwachsen kann gravierende und weitreichende Folgen für ihr weiteres Leben haben. Kinder, die in solch einem Umfeld aufwachsen, sind einem hohen Risiko ausgesetzt, chronische psychische Probleme zu entwickeln. Dazu gehören Depressionen, Angststörungen und posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS). Die ständige Angst und der Stress, denen sie ausgesetzt sind, können tief greifende Auswirkungen auf ihre emotionale Entwicklung haben, was oft zu Schwierigkeiten im Umgang mit eigenen Gefühlen führt.
In zwischenmenschlichen Beziehungen können diese Kinder im Erwachsenenalter große Probleme haben, gesunde Bindungen einzugehen. Das Vertrauen in andere Menschen ist häufig stark beeinträchtigt, was zu Isolation und Problemen in Partnerschaften führen kann. Es besteht auch ein erhöhtes Risiko, dass sie selbst in gewalttätige Beziehungen geraten oder gewalttätige Verhaltensweisen entwickeln, da sie gelernt haben, Gewalt als Mittel der Konfliktlösung zu akzeptieren. Die schulischen und beruflichen Perspektiven dieser Kinder sind ebenfalls oft negativ beeinflusst.
Chronischer Stress und psychische Belastungen können die Konzentrationsfähigkeit und die Lernbereitschaft stark beeinträchtigen. Dies führt häufig zu schlechten schulischen Leistungen und begrenzten beruflichen Möglichkeiten. Zudem haben viele dieser Kinder ein niedriges Selbstwertgefühl, was ihre Fähigkeit, Herausforderungen zu meistern und Erfolge zu erzielen, weiter einschränkt. Auf körperlicher Ebene sind die Auswirkungen von chronischem Stress und Traumata ebenfalls nicht zu unterschätzen. Kinder, die in einem gewalttätigen Umfeld aufwachsen, weisen häufig psychosomatische Beschwerden auf, wie chronische Schmerzen, Schlafstörungen und andere gesundheitliche Probleme. Langfristig kann dies zu ernsthaften gesundheitlichen Beeinträchtigungen führen, die die Lebensqualität erheblich mindern.