Die Internetstars moistcr1tikal (links oben) und xQc (links unten) haben in einem Livestream gegen Schachexpertin Alexandra Botez (rechts oben) und Schachgroßmeister Hikaru Nakamura (rechts unten) gespielt. Foto: Instagram/chess.com

Der Schachsport erlebt in der Pandemie eine ungewöhnliche Zeit. Einige Vereine sorgen sich um ihre Mitgliederzahlen, grundsätzlich scheint der Sport aber so beliebt zu sein wie noch nie. Wie ist die Lage unter den Schachfreunden?

Stuttgart - Es sind dramatisch klingende Worte, die Ullrich Krause, der Präsident des Deutschen Schachbunds, Ende Oktober an seine Schachfreunde richtete: „Ich kann die vielen Mitglieder unserer Vereine, die jetzt über einen Austritt nachdenken, nur darum bitten, diesen Schritt nicht zu vollziehen“, sagte er. Es werde wieder aufwärtsgehen – „sobald wir die Krise überwunden haben“.

Die Krise, von der Krause spricht, ist die Corona-Pandemie. Sie bereitet Schachspielern und Vereinen besondere Schwierigkeiten. Gleichzeitig aber – und hier ist der Schachsport anderen Disziplinen meilenweit voraus – birgt die Krise auch ein enormes Potenzial für die Gemeinschaft. Denn so viele Schachbegeisterte wie jetzt gab es wohl nie zuvor.

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Wie also kommt Ullrich Krause zu seiner düsteren Einschätzung? „Zurzeit sind wir im Blindflug“, sagt der Präsident. Zahlen von April und Oktober ließen zwar einen starken Rückgang an Vereinsmitgliedern erwarten, doch eine aussagekräftige Einschätzung sei erst im Januar möglich, wenn die offiziellen vorgelegt würden, sagte Krause. Trotzdem geht er von einem zumindest vorläufigen Mitgliederrückgang im Jahr 2020 aus. Im Internet dagegen erlebt Schach einen Aufschwung wie noch nie.

Der Boom des Online-Schachs

Schachspieler erreichen auf Video- und Streaming-Plattformen wie Youtube und Twitch erstaunliche Zuschauerzahlen. Ein prominentes Beispiel dafür ist der US-amerikanische Schachgroßmeister Hikaru Nakamura, der im März 2020 respektable 1868 Zuschauer, im Juni dann schon durchschnittlich mehr als 15 000 Livezuschauer in seinen Streams begrüßte. Der Grund für Nakamuras Erfolg: Große Persönlichkeiten auf Twitch, die sonst nie etwas mit Schach zu tun hatten, entdeckten ihre Lust an dem Denksport und traten in ein paar Partien gegen den Großmeister an.

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Gespielt werden Online-Partien häufig auf einem der weltweit größten Schachserver namens Chess.com. Die Seite spricht von zwölf Millionen neuen Spielern in diesem Jahr, verglichen mit 6,5 Millionen Usern 2019. Die Kehrseite der eigentlich positiven Entwicklung aber ist: Laut Chess.com kletterte die Rate an Betrugsfällen bei Schachpartien von etwa 5000 bis 6000 Fällen pro Monat im vergangenen Jahr auf einen historischen Höchststand von 17 000 von der Seite verbannten Spieler im August 2020. Jüngst sprach der Präsident des Weltschachverbands Fide, Arkadi Dworkowitsch, im Hinblick auf das computergestützte Betrügen von einer „echten Plage des zeitgenössischen Schachs“.

„Was dort wettbewerbsmäßig abgeht, ist reines Gezocke“

Ullrich Krause vom Deutschen Schachbund sieht es anders. „Nach meinem Kenntnisstand ist der Betrug im Schach kein dramatisches Problem“, sagt er, Doping gebe es auch in anderen Sportarten: „Außerdem sind die Algorithmen heutzutage so gut, dass sie Betrüger zu hoher Wahrscheinlichkeit entdecken.“ Zwar stimmt es, dass Online-Betrüger in vielen Fällen von Kontrollsystemen enttarnt werden, unschöne Bilder bei Turnieren ergeben sich dennoch zuhauf. So ist in der von Chess.com regelmäßig veranstalteten PRO Chess League dem eigentlichen Turniergewinner Anfang Oktober wegen Betrugsvorwürfen der Sieg abgesprochen worden. Bei der deutschen Internet-Schach-Amateurmeisterschaft des Deutschen Schachbunds im April wurden sogar die beiden ursprünglichen Erstplatzierten wegen unerlaubter Hilfsmittel disqualifiziert. Einzelfälle sind das international betrachtet nicht.

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Claus Seyfried, Vorsitzender der Stuttgarter Schachfreunde (SF) 1879 aus der zweiten Bundesliga, sieht Online-Schach deshalb auch kritisch. „Was im Internet wettbewerbsmäßig abgeht, ist reines Gezocke.“ Seine Begründung: Schachpartien im Netz sind um einiges schneller als ihre analogen Begegnungen. Bedenkzeit gibt es kaum, um Betrügern das Schummeln zu erschweren. „Am Tisch ist Schach ein vollkommen anderes Spiel“, sagt Seyfried. „Online kann es passieren, dass du verlierst, weil die Zeit so kurz ist, dass du nicht mehr zum Zug kommst.“

Das Potenzial ist gewaltig

Trotz der Zweifel nehmen Schachspieler der SF 1879 etwa an der sogenannten Quarantäneliga teil, einem Online-Turnier, das es Schachmannschaften weltweit ermöglicht, gegeneinander anzutreten. Die Quarantäneliga sei ein Format, das es vorher so nicht gegeben habe, sagt Seyfried. Ein neues, internationales Turnier und ein massiver Zuwachs an Schachbegeisterten, das ist online erkennbar.

Claus Seyfried ist – wie auch Ullrich Krause – deshalb zumindest mittelfristig optimistisch. „Klar haben wir die leise Hoffnung, dass junge Menschen dadurch zu uns finden“, sagt Seyfried. Während andere Vereine eher von Mitgliederrückgängen sprechen, habe es bei den SF 1879 in den vergangenen Monaten sogar einen Zuwachs an Vereinsmitgliedern gegeben. Diese seien zwar nicht unbedingt jung gewesen – aber immerhin.