Die Künstlerin Anna Grishina (links) vor der Holzermaler-Bar an der Weberstraße. Foto: Bogen

Mit Pastellkreide bildet die Künstlerin Anna Grishina die Melancholie und Einsamkeit der Stuttgarter Altstadt ab – auf den Spuren von Toulouse-Lautrec. Die junge Russin hat bei Streifzügen das ihr zuvor fremde Rotlichtviertel zwischen Bars und Puffs lieb gewonnen.

Stuttgart - In der Tabu-Bar kostet die Flasche Champagner 440 Euro. Es bleibt das Geheimnis von Ilona, die seit 25 Jahren vor dem Animierlokal auf der Leonhardstraße steht, wie viele Männer sie reinziehen kann, die im Séparée den teuersten Posten der Karte ordern. Einen Piccolo gibt’s für 20 Euro. Im Preis inbegriffen: ein offenes Ohr für was auch immer. Im roten Licht wird mehr als nur Sex verkauft. Einsame Männer holen sich bei Ilona das Gefühl, nicht einsam zu sein. Wie traurig dies in Wahrheit ist, wird gekonnt überspielt. Ilona gehört zum Stuttgarter Leonhardsviertel wie die Currywurst zum Brunnenwirt. Auf dem Mund gefallen ist sie nicht. Manche sagen, sie sei „so was wie das Boulevardblatt“ im Städtle. Ilona weiß, was los ist. Keiner weiß, wie alt sie ist. Jetzt v

ist Ilona für immer alterslos verewigt: Die Türsteherin und Reinzieherin der Tabu-Bar wird mit Pastellkreide auf Papier zum Kunstwerk.

Die Gestrandeten und Außenseiter zogen ihn an

Die junge Russin Anna Grishina, die wochenlang in der Altstadt unterwegs war, um mit den Augen einer Frau ein Viertel abzubilden, in dem Frauen nicht immer gut behandelt werden, hat Ilona quasi ein buntes, ja eindringliches Denkmal gesetzt.

Zur Eröffnung ihrer Ausstellung mit 14 Werken auf den Spuren von Henri de Toulouse-Lautrec hat Wirt Jörg Kappler, der Macher von www.staedtle.de, auch Ilona in seine Bar Holzmaler eingeladen, die vor zwei Jahren an der Weberstraße als verstecktes Lokal nach Vorbild der Prohibition der 1920er eröffnet wurde. Doch Ilona sagte ab. Sie müsse arbeite, also stundenlang rumstehen, auf dass mal ein Piccolo-Körkchen knallt.

Mit ungeschminkten Szenen des Pariser Nachtlebens spiegelte Lautrec das Bild der Belle Époque und zeigte die Schattenseiten von Suff und Sex. Die Gestrandeten und Außenseiter zogen ihn an, die erklären können, was das Leben ausmacht. Bei einer Hure holte sich der Künstler Syphilis, starb 1901 mit 37 Jahren. An Toulouse-Lautrec hat Anna Grishina, die in Moskau zur Welt kam und in Stuttgart an der Kunstakademie studierte, gedacht, als Jörg Kappler sie fragte, ob sie nicht Bilder eines ganz besonderen Viertels malen wolle – eines zentralen Stadtviertels, das schwer zu verstehen ist, das mal romantisch verklärt wird, aber auch angesichts der Elendsprostitution wütend macht.

Ein Büchle unter dem Titel „Parole: Pinsel, Puff & Poesie“ erschienen

Von der Altstadt wusste die Künstlerin wenig, die im Stuttgarter Westen lebt. „Ich war sehr skeptisch, ob man da als Frau künstlerisch frei arbeiten kann“, sagt sie, „doch gleichzeitig war ich neugierig.“ Der Gedanke an Toulouse-Lautrec, an einen wirklich großen Künstler, der ein Vorbild für Generationen ist, habe sie „beruhigt“. Anna Grishina sagte zu. „So bin ich erst mal zur Leonhardskirche gegangen, hab’ mich auf eine Bank gesetzt, um in die Atmosphäre des Viertels einzutauchen“, erzählt sie bei ihrer Vernissage in der Bar Holzmaler. Langsam näherte sie sich dem Rotlichtviertel von dessen Rändern aus. An diesem Abend wird auch ein schönes Büchle unter dem Titel „Parole: Pinsel, Puff & Poesie“ mit Altstadtgeschichten präsentiert, das zugleich die neue Cocktailkarte der versteckten Bar mit Infos über die Drinks ist.

Im Finkennest hingen Unterhosen als Deko an der Wand

Eine geimpfte Vielfalt der Stadt ist gekommen, manch einer, der den Orden „Recken des Stuttgarter Nachtlebens“ verdient hätte, würde es so was geben. Gerhard Goller, viele Jahrzehnte Chef der Gaststättenbehörde, erinnert an „goldene Tage des Städtles“, etwa ans Finkennest, das sich wenige Meter weiter befand: „Im Lokal hingen Unterhosen als Deko, nachts wurde Musik mit Kochtöpfen gemacht.“ Einen Mann mit langen Koteletten, berichtet er, nannte man „König der Altstadt“. Sein Name: Franz Renon. In den 70ern erklärte dieser: „Nicht Verbrecher regieren die Altstadt, sondern die Polizei.“ Holger Hommel trägt Gedichte vor und erzählt, wie er als 17-Jähriger „Kilometergeld“ hätte bekommen sollen, so viele Runden drehte er nervös im Viertel, bis ihn eine Hure überredete, sein erstes Mal bei ihr anzugehen.

Keine Angst, weil die Polizei oft durchs Viertel fährt

Hatte die Künstlerin Anna Grishina keine Angst als Frau allein im Rotlicht? Am Anfang fühlte sie sich „unwohl“, wie sie einräumt, doch nicht lange: „Man sagte mir, das Städtle ist das sicherste Viertel von Stuttgart, weil so oft Polizei durchfährt.“ Rasch verstand sie, wie entscheidend Augenblicke sind. Wer nur eine oder zwei Sekunde länger als nötig in die Augen eines anderen schaut, kann falsch verstanden werden. Männer könnten denken, da biete sich eine Prostituierte an. Und wenn ein Mann noch mal mit Blicken „nachfasst“, fühlen sich Prostituierte beim eigentlich verbotenen Straßenstrich aufgefordert, sich anzubieten. Fragt eine junge Frau bereits am Morgen: „Kommst du mit?“ Antwortet der Mann: „Dafür ist es mir zu früh.“ Darauf sie: „Irgendwann ist es zu spät.“

Je öfter Anna Grishna zum Malen kam, desto weniger fiel sie auf. Fremde begannen, ihre Geschichten zu erzählen. Die Künstlerin erkannte, dass ein fast familiäres Miteinander von gegensätzlichen Menschen besteht. Und dennoch: Konflikte bleiben, auch wenn Bordellchefs und Szenewirte gemeinsam ein Bier trinken. Der Streit geht darum, was wichtiger für die Zukunft des Quartiers ist – die neuen Bars oder das alte Gewerbe? Manchmal wollte sich die Künstlerin „unsichtbar“ machen, aber auch zeigen, dass sie „irgendwie“ zur Geschichte des Viertels gehöre, das sie trotz allem lieb gewonnen hat.

Der Charme des Morbiden vermischt sich mit neuen Hotspots

Stuttgarts Altstadt ist nur ein Städtle. Einen Toulouse-Letrec gibt’s hier nicht. Die Weberstraße beim Holzmaler zeichnet den Verlauf der einstigen Stadtmauer nach. Der Charme des Morbiden und Verruchten mischt sich mit neuen Hotspots der Barszene. Das Viertel bleibt widersprüchlich und lockt Künstler an. Hier träumt sich’s gut – von einer neuen kreativen Mitte Stuttgarts.