Forschungsschiff Tara in Paris – auf einer 125.000 Kilometer langen Fahrt erforschten die Wissenschaftler RNA-Viren rund um den Erdball. Foto: imago/Alexis Sciarde

RNA-Viren können Krankheiten wie Covid-19 auslösen. Sie können aber auch zur Evolution beitragen – und führten etwa dazu, dass Menschen Stärke besonders gut verarbeiten können.

Spätestens seit der Coronapandemie kennt fast jedes Kind RNA-Viren, die Covid-19, Grippe, Tollwut und etliche andere Krankheiten auslösen können. Diese nicht einmal unter einem normalen Mikroskop sichtbaren Winzlinge sind aber viel mehr als nur Erreger von Infektionen bei Menschen, Tieren und Pflanzen, auf die sich die Forschung bisher meist konzentriert hat. Auch wenn sie sich nicht einmal aus eigener Kraft vermehren können, sondern Lebewesen als Wirte für diesen Zweck einspannen, spielen Viren nicht nur in der heutigen Natur, sondern auch in der Evolution des Lebens offensichtlich eine sehr wichtige Rolle.

Bisher wusste man nicht viel über RNA-Viren

Wie wenig von diesen Global Playern bekannt ist, zeigt jetzt eine Gruppe um Matthew Sullivan von der Ohio State University im US-amerikanischen Columbus in der Fachzeitschrift „Science“: In Wasserproben aus allen Weltmeeren fand das Team nicht nur das Erbgut von RNA-Viren der bisher bekannten fünf Virenstämme, sondern entdeckten weitere fünf neue Virusstämme, die der Wissenschaft vorher noch nicht bekannt waren.

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„Bisher war über die Vielfalt von RNA-Viren noch so wenig bekannt, dass man in einem einzigen Eimer mit Meerwasser riesige Fortschritte in der Virologie machen konnte“, erklärt Terry Jones, der mit seiner Gruppe am Institut für Virologie des Berliner Uniklinikums Charité das Erbgut neuartiger oder längst ausgestorbener Viren aufstöbert, an der Forschung der Ohio State University aber nicht beteiligt war. „Allerdings haben die US-Kollegen in ihrer sehr schönen Studie nicht nur einen Eimer, sondern sehr viele Proben von Meerwasser aus allen Weltmeeren untersucht und sorgfältig analysiert“, sagt der Charité-Virologe weiter.

Meerwasser lässt in die Vergangenheit blicken

Gesammelt wurden diese Wasserproben auf einer dreieinhalbjährigen und 125 000 Kilometer langen Welt-Umseglung des französischen Forschungsschiffs Tara in den Jahren 2009 bis 2013. An 210 Stellen entnahmen die Forscherinnen und Forscher auf der Expedition Wasserproben aus bis zu tausend Metern Wassertiefe. Mit neu entwickelten Strategien der Bioinformatik fischten Matthew Sullivan und seine Gruppe aus diesen Proben die Erbinformationen für „RNA-abhängige RNA-Polymerasen“ (RdRP) genannte Enzyme.

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RNA-Polymerasen wiederum übersetzen in Menschen, Tieren, Pflanzen und Mikroorganismen Informationen auf dem Erbgut DNA in ein nahe verwandtes, aber deutlich unterscheidbares RNA-Molekül. Diese RNA wiederum enthält eine Vorlage, nach der Proteine und damit zentrale Biomoleküle der Organismen hergestellt werden. Anders als bei Tieren, Pflanzen, Pilzen und Mikroorganismen besteht das Erbgut von RNA-Viren allerdings nicht aus DNA, sondern aus RNA. Um dieses RNA-Erbgut zu vermehren, nutzen nicht nur Coronaviren, sondern die meisten RNA-Viren die RdRP, nach deren Verwandtschaft Matthew Sullivan und seine Gruppe jetzt in den Meerwasser-Proben der Tara-Expedition gefahndet haben.

Einer der dabei entdeckten, bisher unbekannten Virusstämme sind die Taraviricota-Viren. Nach den Analysen des US-Teams scheinen diese Erreger uralt zu sein. „Diese Studie ist daher ein wichtiger Beitrag zu alten und zentralen Fragen zur Evolution von RNA-Viren“, erklärt Charitè-Forscher Terry Jones: Aus den Vorfahren dieser Taraviricota-Viren könnten sich in der Zeit, als das Leben auf der Erde gerade erst entstanden war, auch sogenannte Retro-Elemente entwickelt haben, vermuten die US-Forscher dann auch in ihrem Science-Artikel.

Einfluss auf den Speichel in unserer Mundhöhle

Diese Retro-Elemente wiederum kommen im DNA-Erbgut von Tieren und Pflanzen vor und können dort unter bestimmten Umständen ihren angestammten Platz verlassen und an eine andere Stelle im Erbgut springen. Bei diesem Vorgang werden die Retro-Elemente zunächst wie jede andere Erbinformation auch in eine RNA übersetzt. Ein spezielles Enzym namens „reverse Transkriptase“, das zum Beispiel in Retroviren wie dem AIDS-Erreger HIV vorkommt, verwandelt diese RNA dann wieder in DNA, die an einer völlig anderen Stelle im Erbgut eingebaut werden kann.

Solche springenden Elemente haben zum Beispiel im Erbgut in den Speicheldrüsen der Mundhöhle des Menschen das Amylase-Gen aktiviert, das dort in vielen anderen Säugetieren nicht aktiv ist. Mit Hilfe dieser Amylase wiederum können Menschen die in vielen Pflanzen wie Getreide und Kartoffeln vorhandene Stärke besser verdauen als viele Tiere. Springende Elemente bedeuten für Menschen daher einen deutlichen Vorteil. Und zeigen so auch, wie wichtig die Evolution von Viren auch für die Entwicklung von Tier- und Pflanzen-Arten sein kann.