Paul-Ludwig U. maskiert am ersten Prozesstag Mitte April. Verteidiger halten ihn für einen zwielichtigen Spitzel der deutschen Sicherheitsbehörden. Foto: dpa

Im Verfahren gegen die mutmaßlich rechtsterroristische Gruppe S. beschäftigen Richter, Ankläger, Verteidiger und Gutachter vor allem die Fragen, ob der Kronzeuge glaubwürdig und ein eingeschleuster Provokateur ist. Dabei bestätigen zwei weitere Angeklagte U.s Aussagen im Kern.

Stuttgart - Der Angeklagte U. ruckelt sich in seinen Drehstuhl, zupft noch einmal an der medizinischen Schutzmaske vor Nase und Mund, dreht das Büromobiliar nach rechts und lehnt sich zurück. Ein Eimer Popcorn – und ein Kinoabend könnte beginnen. In der Stammheimer Außenstelle des Stuttgarter Oberlandesgerichts sind es allerdings nur drei, über Tage dauernde Videovernehmungen Paul-Ludwig U.s, die auf übergroßen Bildschirmwänden an beiden Seiten des großen Sitzungssaales zu sehen sind.

Vernehmungen, die jetzt seit 16 Verhandlungstagen bei den Verteidigern im Prozess gegen die mutmaßlichen Mitglieder der sogenannten Gruppe S. die immer gleichen Fragen aufwerfen. Was ist U. eigentlich: Beschuldigter in einem großen deutschen Rechtsterrorismusverfahren? Bezahlter Informant des baden-württembergischen Landeskriminalamtes (LKA)? Vertrauensperson der Polizei, Vertrauensmann des Verfassungsschutzes, von den Sicherheitsbehörden eingeschleuster Provokateur?

Vor allem aber treibt die fünf Richter, die drei Anklägerinnen des Generalbundesanwalts und die Strafverteidiger die Frage um: Ist U. glaubwürdig, und sind seine Aussagen glaubhaft, die die Polizei im Spätsommer 2019 überhaupt erst auf die nach ihrem Anführer benannte Gruppe S. brachte? Auch das soll ein Tübinger Psychiater begutachten, der den sich hinfläzenden U., dessen Augen und Regungen aufmerksam im Blick hat.

Geplante Morde, Anschläge und der Umsturz des politischen Systems in Deutschland

Fest steht: U. bot sich dem Bundesamt für Verfassungsschutz, der Polizei in Würzburg und Gießen an, bevor er beim LKA Baden-Württemberg mit seiner Geschichte über geplante Morde, Anschläge und einen Umsturz in Deutschland landete: Er sei über soziale Medien in eine Gruppe Rechtsradikaler gelangt, die planten, Moscheen anzugreifen, die Gläubigen niederzuschießen und so gewaltsame Reaktionen der muslimischen Bevölkerung zu provozieren. Das explosive Gemisch – so der Plan – sollte einen Bürgerkrieg hervorrufen und letztendlich zum Sturz des politischen Systems in Deutschland führen, fasst der Generalbundesanwalt die Pläne der zwölf Männer zusammen, die er in Stuttgart angeklagt hat.

U. lieferte Namen, Telefonnummern, Treffpunkte und Details dieser Zusammenkünfte. Weil das „mehr als Facebook-Gehabe ist“ und weil das, „was da angekündigt wurde, mir zu heftig ist“. Die in der Gruppe ausbaldowerten Anschlagspläne könnten nämlich „jeden treffen“, auch „Unschuldige, Frauen und Kinder“. Zugleich fragte er die Ermittler aber auch: „Wenn ich jetzt aussteige, ist das genug für euch“, „jetzt, wo wir so nah‘ dran sind“? U. führe ja ein Rollenspiel auf, um nicht aufzufallen. So habe er in der Gruppe angeregt, einen Anschlag auf die Zentralmoschee der türkischen Religionsbehörde DITIP in Köln zu verüben – „um nicht aufzufallen“. Die Ermittler in den Vernehmungen schweigen.

U. bestätigte zwar in seinen Befragungen, er wisse, dass er als Beschuldigter vernommen werde. Dass er freiwillig und ohne einen Rechtsanwalt bei der Polizei aussage. Aber, so gab er im April vergangenen Jahres auch zu Protokoll, dass er „einmal die Woche 100 Euro vom LKA als Ersatz für Hartz IV“ kriegt. Als Beschuldigter Geld von der Polizei erhalten – das passt für die Verteidiger nicht zusammen. Zumal U. von einer Videokonferenz mit einer Bundesanwältin sprach. Von Zeugenschutz sei die Rede gewesen. Aber: Über ein digitales Treffen oder andere Absprachen soll sich, so die Verteidiger, weder ein Vermerk noch ein Protokoll in den Akten befinden.

„Eine derart kranke Fantasie“

„Wann haben wir jemals als Verteidiger erlebt, dass jemand eine derart kranke Fantasie hat?“, fragte Werner Siebers, Anwalt des beschuldigten Rädelsführers Werner S., nach den in Augenschein genommenen Vernehmungen U.s. Der sei für die Ermittlungsbehörden tätig gewesen, ist Verteidiger Philipp Grassl fest überzeugt. Sein Kollege Heiko Hofstätter attestiert dem Kronzeugen einen „erheblichen Belastungseifer“ gegenüber seinen Mitangeklagten.

Dazu passen allerdings nicht die Aussagen, die die beiden Angeklagten Steffen B. und Stefan K. – im Beisein ihrer Anwälte – bei den Ermittlern machten. Die bestätigen im Kern die Version Paul-Ludwig U.s in zwei wesentlichen Punkten: Als sich die Gruppe am 8. Februar 2020 in Minden traf, um „bei Brot und Wein Krieg“ zu besprechen, wie es zuvor in der Einladung hieß, sei über Anschläge gesprochen worden. Aufgebracht habe das Thema Werner S., vertieft hätten es vor allem Kronzeuge U. und der Münchener Frank H. Zwar habe U. ein Attentat auf die Kölner Moschee angeregt. Dies sei aber von S. verworfen worden, „weil das zu groß ist. Dass man da ruck, zuck gefasst werden kann und eingekerkert wird“, schildert B. den Kriminalisten die Gründe.

Stattdessen habe Werner S. über kleinere Moscheen gesprochen, „wo halt wichtige Imame predigen. Die quasi wichtig genug wären und eine Gegenreaktion von der Bevölkerung auslösen würden“. Allerdings, so K., ging er davon aus, dass es keine konkreten Pläne gab: „Da wurde jetzt nicht gesagt, wir treffen uns dann und dann dort und dort und machen das und das.“ Es habe immer nur geheißen, „wir müssen in die Moschee stürmen und dann um uns schießen“.

Zwei Angeklagte stützen die Aussage des Kronzeugen

Die beiden bestätigten auch U.s Aussage, die Gruppe habe besprochen, sich zu bewaffnen und dafür Geld sammeln zu wollen. So sei gefragt worden, „wer Waffen beschaffen kann etc. Es wurde halt gefragt, wer bereit wäre, dafür Geld zu geben“, sagt Stefan K. aus. B. konkretisiert, der Hauptbeschuldigte Werner S. habe angesprochen, Geld für Waffenkäufe von den Gruppenmitgliedern einzusammeln. Deshalb sei abgefragt worden, wer wie viel geben wolle. So seien zwischen 40 000 und 50 000 Euro zusammengekommen, sagten beide Angeklagten übereinstimmend aus. S. sagte bei seiner Festnahme am 14. Februar 2020 dem den Einsatz führenden Hauptkommissar, bei dem Treffen in Minden habe „man sich über verschiedene Szenarien unterhalten, man habe auch darüber gesprochen, Geld einzusammeln und davon Waffen zu kaufen“. So habe man sich auf einen Betrag von 5000 Euro pro Teilnehmer geeinigt. „Insgesamt sollten 50 000 Euro zusammenkommen.“ Um davon Waffen für die „Selbstverteidigung“ zu kaufen.

Die Verteidiger üben sich in der indirekten Schelte ihrer Kollegen, die bei den Vernehmungen neben ihren Mandanten saßen: Von unerlaubten Verhörmethoden ist die Rede. Denn: Zu Beginn der Befragungen sei den Beschuldigten im Indikativ, der grammatikalischen Wirklichkeitsform, vorgehalten worden, was ihnen die Anklägerinnen zur Last legen. Das hätte aber im Konjunktiv erfolgen müssen, in der Möglichkeitsform, weil ja überhaupt nicht erwiesen sei, ob die Beschuldigten taten, was ihnen vorgeworfen wird.

Aus den tumben Mandanten werden semantische Feinschmecker

Es verwundert, dass ausgerechnet jene Angeklagten diese feinen Unterschiede in der Wortdeutung sollen wahrnehmen können, deren eigene Anwälte am zweiten Prozesstag noch anzweifelten, dass sie „geistig in der Lage sind, zu verstehen, was ihnen vorgeworfen wird“, denen es daran mangelt, „mehr als eine Gruppe Pfadfinder zu sein“, die doch „keine Führer sind, weil ihnen dazu das geistige Rüstzeug fehlt“.

Er wisse nicht, fragte Richter Herbert Anderer spitzbübisch vor zwei Wochen in die Runde, „ob ich Verteidiger sein wollte, wenn ich später von meinen Kollegen derart der Unfähigkeit bezichtigt werde“. An diesem Dienstag wird der Prozess in Stammheim fortgesetzt. Noch vor der Anfang August beginnenden Verhandlungspause will der Senat von der Polizei aufgezeichnete Telefongespräche anhören, die die mutmaßlichen Gruppenmitglieder miteinander führten.