In der Kaltentaler Abfahrt wurden Radfahrer nachweislich zu eng überholt. Seit Januar wird das Überholverbot mit einem neuen Verkehrsschild betont. Foto: 7aktuell.de//Andreas Werner

Mehr als 100 Radfahrer haben auf Stuttgarts Straßen gemessen, wie eng sie überholt werden. Unsere Karte zeigt, wo Autofahrer die 1,50 Meter Mindestabstand einhalten – und wo das so gut wie nie gelingt.

Stuttgart - Auf dieser wichtigen Karte leuchtet Stuttgart in grün, gelb und rot. 1251 Punkte finden sich darauf, jeder markiert einen Überholvorgang. Erhoben wurden die Daten im vergangenen Jahr von mehr als 100 Radfahrern. Die haben sich einen Sensor namens Kesselbox aufs Fahrrad geschnallt, entwickelt von Studierenden der Dualen Hochschule Stuttgart (DHBW) und von der Hochschule in zwei Wellen gestiftet. Im Rahmen des Projekts „Radort Stuttgart“ hat unsere Zeitung die Boxen per Radkurier verteilt: Von mehr als 200 Freiwilligen kamen etwas mehr als 100 zum Zug.

Jedes Mal, wenn ein Auto überholte, hat die Kesselbox per Ultraschall den Abstand gemessen. Nachdem die Daten bereinigt wurden und etwa Überholvorgänge bei sehr geringer Geschwindigkeit des Radfahrers herausgenommen wurden, blieben besagte 1251 Überholvorgänge übrig – und der dabei gemessene Abstand.

Sie können in der Karte herein- und herauszoomen. Zur bildschirmfüllenden Ansicht geht es hier.

Rot heißt: zu eng überholt

Auto überholt Radfahrer – wird der in der Straßenverkehrsordnung vorgeschriebene Mindestabstand von 1,50 Metern eingehalten, ist der Punkt grün eingefärbt. Gelb heißt, dass der Abstand knapp unterschritten wurde, aber immer noch mindestens 1,20 Meter betragen hat. Wo enger überholt wurde, ist der Punkt rot.

In nur etwa einem Viertel der Fälle wurde korrekt überholt. Rot ist die dominierende Farbe auf der Stuttgart-Karte. Bei knapp der Hälfte aller Überholvorgänge hielten die Autofahrer weniger als 1,20 Meter Abstand, gemessen vom Lenker bis zum Außenspiegel. Das ist die strengstmögliche Auslegung der Straßenverkehrsordnung. Sie schreibt nicht vor, wie der 1,50-Meter-Abstand zu ermitteln ist.

Erstmals Daten zur Kaltentaler Abfahrt

Im Sommer 2021 kontrollierte die Polizei in Baden-Württemberg bei einer Schwerpunktaktion den Überholabstand auf verschiedenste Weise, wie der ADFC dokumentiert hat. Am einfachsten, so der Fahrradclub, sei es bei der Kaltentaler Abfahrt in Stuttgart, wo „zwischen Stadtbahntrasse und parkenden Autos am rechten Fahrbahnrand schlicht kein Platz zum verkehrskonformen Überholen“ vorhanden ist. Gegen das De-facto-Überholverbot verstießen bei den Kontrollen am 5. Mai 2021 insgesamt 23 Autofahrerinnen und -fahrer.

Nicht nur an diesem Tag wurde auf der Kaltentaler Abfahrt illegalerweise überholt. Auf unserer Karte ist die Strecke zwischen Vaihingen und Heslach fast durchweg rot – es wird eben doch überholt, und wenn, dann meist sehr eng. Ausweislich unserer Messdaten betrug der Abstand in der Regel weniger als einen Meter. Mittlerweile zeigt ein neues Verkehrsschild das Überholverbot für Autos eindeutig an.

Gefahrenstrecken fallen bisher durchs Raster

Unsere Datenerhebung dokumentiert damit, was zumindest an dieser Stelle schon bekannt ist. Die Kaltentaler Abfahrt ist unter Stuttgarter Radfahrern wegen der teils engen Überholmanöver oder plötzlich aufgehender Türen bei parkenden Autos berüchtigt. Als Unfallschwerpunkt gilt sie dennoch nicht. Das hat auch formale Gründe, weil die Kriterien so eine Einstufung jedenfalls bei Radfahrern nicht vorsehen und dafür die Zahl der tatsächlichen Unfälle zu gering ist.

So manche unter Radfahrern längst bekannte Unfallstrecke fällt durchs Raster und wird deshalb von Polizei und Verwaltung nicht entschärft, wie unsere genaue Analyse von Unfalldaten zeigt. Lediglich die Abzweigung Engelboldstraße ist mittlerweile als Häufungsstelle erkannt. Sie wurde umgebaut. Gleichwohl hat beim Vor-Ort-Termin die ebenfalls anwesende Verkehrspolizei den Radfahrern vorgeworfen, vielfach an gefährlichen Situationen mit Schuld zu sein.

Weitere gefährliche Strecken identifiziert

Die Karte mit den Überholvorgängen zeigt weitere kritische Bereiche im Stuttgarter Straßennetz, an denen Handlungsbedarf besteht: zum Beispiel die Silberburgstraße und der Herdweg in Stuttgart-West, Teile der Augsburger und Nürnberger Straße (Bad Cannstatt), die Vaihinger Straße (Möhringen) und die Kirchheimer Straße (Sillenbuch).

Vielfach handelt es sich um Straßen mit Rad- oder Schutzstreifen, das heißt es gibt mit durchgängiger oder gestrichelter Linie markierte, mehr oder weniger breite Fahrradspuren. Die sollen eigentlich die Sicherheit erhöhen – führen aber oftmals dazu, dass Autofahrer beim Überholen lediglich auf die Fahrbahnmarkierung achten – nicht aber darauf, dass sie trotzdem anderthalb Meter Abstand zum Radfahrer halten müssen. So argumentiert jedenfalls ein Ende 2018 erschienenes Gutachten der Unfallforschung der Versicherer. Es bestätigte die Auffassung des Radfahrverbands ADFC. Eine Sprecherin des Autoverbands ADAC erklärte gegenüber dem „Spiegel“ dagegen, zu enges Überholen sei nur selten eine „direkte Unfallursache“.

Was die Daten zeigen – und was nicht

Besser klappt es in Stuttgart auf der Theodor-Heuss-Straße aus. Hier wurden vielfach die vorgeschriebenen Abstände eingehalten. Hier wird infolge positiver Erfahrungen mit der während des ersten Coronafrühjahrs eingerichteten Pop-Up-Fahrspur ein neuartiger Radweg eingerichtet: breit, mit erhöhter Fahrbahn und farblich hervorgehoben. Bei der Radschnellverbindung in der Nürnberger Straße zwischen Bad Cannstatt und Fellbach ist noch nicht ganz klar, wie sie gestaltet wird – zunächst kommt ein Radfahrstreifen. Was das für die Überholabstände bedeutet, müssten neuerliche Messungen mit der Kesselbox oder anderen Sensoren zeigen.

Die Karte mit den im realen Straßenbetrieb gesammelten Überholabständen bietet neuen Stoff für die Diskussion zur Stuttgarter Radinfrastruktur. Sie zeigt an etlichen Stellen Handlungsbedarf auf, beispielsweise in den oftmals zugeparkten Tempo-30-Zonen wie der Gutenbergstraße in Stuttgart-West. Zwar sind die Daten nicht systematisch erhoben worden, weil sie auf den tatsächlich gefahrenen Routen der gut 100 Freiwilligen beruht – auch wenn wir bei der Auswahl auf eine Vielfalt bei den gefahrenen Routen sowie den Freiwilligen geachtet haben.

Die Datenbasis ist für Stuttgart so bislang einmalig – und wird sich absehbar noch verbreitern. Neben der von DHBW-Studierenden entwickelten Kesselbox gibt es den Open Bike Sensor. Er funktioniert technisch minimal anders. Die damit erhobenen Daten sind aber prinzipiell mit denen der Kesselbox kompatibel. So kann das Netz der gemessenen Überholvorgänge noch dichter werden.