Ein 55-jähriger Reichsbürger stand nun vor dem Oberlandesgericht (Archivbild). Foto: imago images/Arnulf Hettrich/Arnulf Hettrich via www.imago-images.de

Efringen-Kirchen und Boxberg stehen für eine neue Form von Gewalt: „Reichsbürger“ gehen auf Polizisten los. Immer mehr mutmaßliche Anhänger der Szene stehen vor Gericht. So wie nun in Stuttgart.

„Guten Morgen erstmal“, grüßt der Mann mit Zopf und Zottelbart die Richterbank, dann winkt der mutmaßliche „Reichsbürger“ zaghaft durch die gepanzerte Scheibe und lächelt kurz. Überraschend freundlich wirkt das angesichts dessen, was dem Mann vorgeworfen wird. Es ist sein erster öffentlicher Auftritt nach zahlreichen Schüssen auf mehr als ein Dutzend Polizisten im badischen Boxberg. Und es ist eine recht kurze, selbstbewusste Visite auf der Anklagebank des schwer gesicherten Prozesssaals des Oberlandesgericht Stuttgart. Nach nicht einmal einer Stunde wird die Verhandlung vertagt, der 55-Jährige greift nach seinem Notizblock, dann wird er in Hand- und Fußfesseln wieder aus dem Raum geführt.

Den Saal wird er oft betreten in den kommenden Monaten. Denn die Vorwürfe, die die Bundesanwaltschaft am ersten Prozesstag formuliert, wiegen schwer. Die Bundesanwaltschaft wirft dem Mann unter anderem mehrfachen versuchten Mord vor, außerdem soll er ein ganzes Waffenarsenal illegal im Haus gebunkert haben. Äußern will sich der Angeklagte am Mittwoch dazu nicht. Erst Ende April werde er Angaben zum Lebenslauf machen, sagt seine Anwältin. Zur Sache werde er sich vorerst nicht äußern, das habe er beim Gutachter getan.

Die Beschreibungen des Bundesanwalts erinnern an Szenen aus dem Wilden Westen: Demnach schießt der 55-Jährige im April vergangenen Jahres in der kleinen Gemeinde Boxberg zwischen Heilbronn und Würzburg mit einem Schnellfeuergewehr Dutzende Male auf mehrere Polizisten und verletzt mindestens einen von ihnen. Die 14 Beamten wollen seine Wohnung durchsuchen, um eine Pistole einzuziehen. Sie sind mit zwei gepanzerten Fahrzeugen gekommen, denn sind gewarnt: Der Angeklagte ist aktenkundig und lebt in der Wohnung einer Familie, die der „Reichsbürger“-Szene zugeordnet wird.

Sein Grundstück sei nicht Teil der Bundesrepublik

Laut Bundesanwaltschaft sieht der nun angeklagte Mann sein Grundstück und die Wohnung damals „als ein eigenständiges, jedenfalls nicht der Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland“ unterstelltes Gebiet an und sichert es entsprechend ab.

Mit Blaulicht und heulendem Martinshorn kündigen sich die Polizisten in den Morgenstunden des 20. April an, sie rufen laut und dringen schließlich auf das Grundstück des Mannes vor. Einer der Polizisten setzt den Trennschleifer an die fast komplett geschlossenen Fensterläden. „Spätestens in diesem Moment beschloss der Angeklagte, die Polizeibeamten, die er als solche erkannte, zu erschießen“, verliest der Bundesanwalt zum Prozessauftakt. Er eröffnet im Haus das Feuer und verletzt einen der Beamten an beiden Beinen, ein anderer verletzt sich leicht, als er sich und die Kollegen im Geschosshagel mit einem Schutzschild sichern will.

Waffenlager im Haus

Zwei Stunden lang verbarrikadiert sich der Mann im Haus, er schießt aus dem Wohnzimmer, wechselt die Position ins Schlafzimmer und gibt weitere Schüsse ab. Irgendwann schlagen Flammen aus dem Haus, schließlich gibt der umstellte Angeklagte auf. „Er hatte erkannt, dass er gegen die polizeiliche Übermacht nichts mehr würde ausrichten können“, sagt der Bundesanwalt im Gericht. Im schwer zerstörten Haus stoßen die Ermittler auf ein begehbares Waffenlager: Gewehre und Maschinenpistolen liegen dort griffbereit, insgesamt 5116 Schuss Munition zählen die Ermittler, alles ohne Erlaubnis, zudem Reichsflaggen.

Die Bundesanwaltschaftschaft ist sich sicher: Der Mann, der da bis mindestens Oktober im Hochsicherheitssaal auf der Anklagebank Platz nehmen wird, ist ein sogenannter Reichsbürger. Ein Mann, der die Existenz der Bundesrepublik Deutschland leugnet und seine eigenen Regeln aufstellt. Das Bundesamt für Verfassungsschutz geht von rund 23 000 Anhängerinnen und Anhänger aus - Tendenz steigend. Unter ihnen seien auch Gewaltbereite sowie Rechtsextreme. Einige aus der Szene sind im Besitz von Waffen.

Mehrere Verfahren in kürzester Zeit

Es ist innerhalb kurzer Zeit das zweite Verfahren in Stuttgart, das Generalbundesanwalt Peter Frank gegen die Szene anstrengt. Vor knapp zwei Wochen war dort bereits ein mutmaßlicher „Reichsbürger“ wegen versuchten Mordes zu zehn Jahren Haft verurteilt worden. Das Urteil ist aber noch nicht rechtskräftig. Der 62-Jährige soll im südbadischen Efringen-Kirchen absichtlich einen Polizisten angefahren und schwer verletzt haben.

Auch die möglichen Anklagen nach den Razzien im Dezember und vor knapp zwei Wochen liegen in der Verantwortung der Bundesanwaltschaft ebenso wie das wahrscheinliche Verfahren wegen mehrfachen versuchten Mordes gegen einen mutmaßlichen Reutlinger „Reichsbürger“. Der Mann hatte nach Überzeugung der Ankläger bei der jüngsten Razzia auf Polizisten geschossen. Frank sprach zuletzt von mehr als 60 Beschuldigten nach den Razzien. Die Ermittlungen würden einige Zeit in Anspruch nehmen.

„Von der Reichsbürgerszene geht eine reale Gefahr für unseren Staat aus - was nicht erst das schreckliche Ereignis im vergangenen Frühjahr in Boxberg gezeigt hat“, warnt die baden-württembergische Justizministerin Marion Gentges (CDU). Tatsächlich gilt etwa jeder Zehnte in der Szene als gewaltorientiert.