Die Proteste gegen die Islamische Republik begannen vor einem halben Jahr – und flauten zuletzt ab. Doch offenbar formieren sich die Regimegegner gerade neu.
Fünf junge Frauen tanzen auf einem Hof zwischen zwei Wohnblöcken und lassen sich dabei filmen. Was in anderen Ländern eine Alltagsszene wäre, ist im Iran eine Sensation, denn öffentliches Tanzen ist Frauen in der Islamischen Republik verboten. Außerdem tragen die Tänzerinnen bauchfreie Pullis und keine Kopftücher. Jetzt fahndet die Polizei nach ihnen.
Das Tanzvideo wurde im Teheraner Stadtteil Ekbatan aufgenommen, einer Hochburg der Proteste gegen das iranische Regime, und im Internet innerhalb weniger Tage millionenfach angeschaut. Sechs Monate nach Beginn der Demonstrationen gegen die Islamische Republik ist der Clip ein Beispiel dafür, dass die Protestbewegung immer neue Wege des Widerstands gegen das Mullah-Regime findet. „Gesellschaft und Regime sind auf Kollisionskurs“, sagt der Berliner Iran-Experte Ali Fathollah-Nejad.
Beim iranischen Frühlingsfest nächste Woche wohl neue Demonstrationen
Bis zum 16. September vergangenen Jahres hätte niemand im Iran einen solchen Machtkampf für möglich gehalten. An diesem Tag starb die 22-jährige Mahsa Amini in der Gewalt der Teheraner Religionspolizei. Die Sittenwächter hatten die junge Frau festgenommen, weil sie ihr Kopftuch angeblich nicht streng genug gebunden hatte. Aminis Tod trieb im ganzen Land Hunderttausende Frauen und Männer zu Massenprotesten gegen die Islamische Republik auf die Straßen. Das Regime antwortete mit Gewalt. Mehr als 500 Menschen wurden nach Zählung von Menschenrechtlern bei Zusammenstößen getötet, vier Demonstranten starben am Galgen.
Die Massenkundgebungen sind seit Ende des Jahres abgeflaut, doch nun könnte es nach Einschätzung von Beobachtern beim iranischen Frühlingsfest Newroz kommende Woche neue Demonstrationen geben. Denn an den Gründen für den Aufstand hat sich nichts geändert. Eine Beilegung des Konflikts ist dem Iran-Experten Fathollah-Nejad zufolge nicht zu erwarten, weil die Staatsführung nicht daran denkt, Forderungen der Protestbewegung zu erfüllen. „Es gibt keine Anzeichen dafür, dass das Schiff der Islamischen Republik seinen Kurs korrigiert“, sagte er unserer Zeitung. „Das Regime hat nach wie vor keine politischen Antworten.“
Arbeit der Regimegegner beschleunigt
Nach den Massenprotesten im Herbst befindet sich die Protestbewegung nach Einschätzung von Ali Fathollah-Nejad in einer Übergangsphase, in der die nächsten Schritte vorbereitet werden. Dazu gehöre die Formulierung konkreter Forderungen an das Regime. Fathollah-Nejad verweist auf einen Katalog von zwölf Mindestforderungen, der im Februar von 20 Organisationen der iranischen Zivilgesellschaft wie Gewerkschaften und Studentengruppen veröffentlicht wurde; zu den Forderungen gehören die Freilassung aller politischer Häftlinge, die Garantie der Meinungsfreiheit und die Gleichstellung der Frau.
Die iranische Exil-Opposition veröffentlichte vor wenigen Tagen eine eigene Charta, die den Weg zu einer säkularen Demokratie weisen soll. Das Papier sieht eine Volksabstimmung zur Legitimierung des neuen Systems sowie die Stärkung von Freiheits-, Frauen- und Arbeiterrechten vor. An eine Einigung unterschiedlicher Oppositionsgruppen auf ein solches politisches Modell wäre vor dem 16. September nicht zu denken gewesen: Die Proteste seit Aminis Tod haben die Arbeit der Regimegegner innerhalb und außerhalb des Iran an Alternativen zur Islamischen Republik beschleunigt.
„Bis hin zum Kollaps des Regimes“
Revolutionsführer Ali Khamenei schließt derweil grundlegende Veränderungen aus und will die Öffentlichkeit mit Symbolpolitik beruhigen. So erklärte die Justiz jetzt, mehr als 20 000 festgenommene Demonstranten würden freigelassen.
Gleichzeitig versucht die Regierung, ihre außenpolitische Position zu stabilisieren, um die Wirtschaftslage zu verbessern und so den Protesten den Wind aus den Segeln zu nehmen. Dazu dienen die Normalisierung der Beziehungen zu Saudi-Arabien und die Angebote eines Gefangenenaustauschs mit den USA. Hinter diesen taktischen Schritten steht die unveränderte Entschlossenheit der Mullah-Regierung, ihre Macht gegen die Demonstranten zu verteidigen. Die Proteste würden von den westlichen Feinden des Iran gelenkt, bekräftigte Präsident Ebrahim Raisi am Dienstag. Nun komme es darauf an, ob die Protestbewegung den Druck auf das Regime erhöhen könne, sagt Fathollah-Nejad. „Dann könnte der Iran in eine revolutionäre Situation kommen, in der in kurzer Zeit viel passieren kann, bis hin zum Kollaps des Regimes.“