Louis Partridge, Anson Boon und Toby Wallace (von links) als Sex Pistols Foto: FX/Miya Mizuno

Danny Boyle erzählt in der Miniserie „Pistol“ die Geschichte der Sex Pistols und bringt den Geist der Punk-Ära in London auf den Punkt.

Die 1975 gegründeten Sex Pistols hatten ihre kurze Karriere längst beendet, als bereits 1980 der sehr unterhaltsame Pseudo-Dokumentarfilm „The great Rock’n’Roll Swindle“ des Regisseurs Julian Temple erschien. Darin legten der Gitarrist Steve Jones, der Drummer Paul Cook und der Manager Malcolm McLaren dar, wie letzterer die vielleicht einflussreichste Punk-Band erfand, aufbaute und manipulierte.

Dieses Narrativ erweitert nun der Regisseur Danny Boyle („Slumdog Millionaire“) in seiner brillanten sechsteiligen Miniserie „Pistol“. Das Drehbuch des Australiers Craig Pierce stützt sich auf „Lonely Boy: Tales from a Sex Pistol“, die 2017 erschienene Autobiografie des Bandgründers Steve Jones, der im Zentrum steht. „Uns geht es nicht um Musik, uns geht es um Chaos“, sagt er in einer Szene.

Alles beginnt in der legendären Boutique „Sex“

Boyle erzählt die Geschichte einer schillernden Londoner Clique, die die bürgerliche Welt erschütterte und Punk zur globalen Jugendbewegung machte. Jones (Toby Wallace) ist ein charismatischer Herumtreiber ohne echtes Zuhause, der Autos klaut und nach Konzerten Equipment, etwa David Bowies Mikrofon, „an dem noch sein Lippenstift ist“.

In der legendären Boutique „Sex“ trifft er auf die Modedesignerin Vivienne Westwood (Talulah Riley) und deren Partner Malcolm McLaren (Thomas Brodie-Sangster), die Jones und seine Band zum Vehikel für ihre Weltrevolution entwickeln wollen. Weil Jones live nicht singen kann, holt McLaren den übellaunigen Johnny Rotten alias John Lydon in die Band und später den Punk-Posterboy Sid Vicious.

Boyle lässt keine Schlüsselszene aus

Jones hat derweil eine leidenschaftliche Affäre mit einer amerikanischen Musikerin, die bei „Sex“ arbeitet: die noch unbekannte Chrissie Hynde (Sydney Chandler), die in London ihr Glück sucht, von The Clash abgelehnt wird und 1978 die Pretenders gründet.

Boyle hat die Kulisse liebevoll inszeniert und lässt keine Schlüsselszene aus. Er zeigt die Bootsfahrt auf der Themse, bei der die „Sex Pistols“ 1977 zum Silbernen Thronjubiläum von Elisabeth II. ihren Song „God Save the Queen“ lautstark intonieren, der ihr erster Nummer-eins-Hit wird. Und er zeigt die Pistols, wie im Fernsehen als erste Schimpfwörter benutzten,

Das Schauspieler-Ensemble: eine Wucht

Boyle zeigt auch hier seine Fähigkeiten als virtuoser Cutter, die schon seine Musik-getriebene Drogen-Groteske „Trainspotting“ (1996) zu einem sehr besonderen Erlebnis macht: Bilder und Klänge verschmelzen zu einem Sinnesrausch, der die vielfältigen Beziehungen und Querelen in und um die Band einhüllt.

Vor allem aber hat er fantastische Schauspieler gefunden. Der Australier Toby Wallace, der 2014 schon den INXS-Sänger Michael Hutchence verkörpert hat, gibt Jones die Aura einen unbekümmert-unverfrorenen Gauners, den man einfach mögen muss – der aber die tiefe Trauer eines ungeliebten Kindes in sich trägt. Sein bester Freund ist Paul Cook, und Jacob Slater spielt sehr überzeugend die Rolle des geerdeten Arbeitersprösslings, dessen liebevolle Eltern ihn in ihrem Schlafzimmer Schlagzeug proben lassen.

Thomas Brodie-Sangster ist zum Niederknien als Malcolm McLaren

Anson Boon ist eine Wucht als widerborstiger Johnny Rotten, der mit irre aufgerissenen Augen permanent provoziert, aber ein großes Herz und ein echtes politisches Anliegen im Sinne der Unterprivilegierten hat. Christian Lees gibt als Glen Matlock mehrfach Kostproben von dessen Beatles-beeinflusster musikalischer Genialität und macht lange gute Miene zum bösen Spiel: Wegen seiner Bürgerlichkeit nimmt ihn niemand ernst.

Thomas Brodie-Sangster ist zum Niederknien komisch als Impressario, Großmaul und Blender Malcolm McLaren, Sydney Chandler als Chrissie Hynde die perfekte Verführerin mit Durchblick, Talulah Riley als Vivenne Westwood eine schneidende Propagandistin, Maisie Williams („Game of Thrones“) sehr überzeugend die schwarz geschminkte, blond toupierte Punk-Promoterin Pamela „Jordan“ Rooke.

Boyle verwebt unzählige Anekdoten

Louis Partridge spielt Sid Vicious als großes Kind und liebenswerten Edelfan der Pistols, der an die Amerikanerin Nancy Spungen (Emma Appleton) gerät, durch sie ans Heroin und 1979 an einen viel zu frühen Rock’n’Roll-Tod mit nur 21 Jahren.

Unzählige Anekdoten verwebt Boyle in den sechs mal 45 Minuten von „Pistol“. Er zeigt, wie der fast schon ausgestiegene Cook die sich ständig streitende Band rettet und den Anstoß zur Komposition von „Anarchy in the UK“ gibt und durch welchen realen Fall einer jungen Frau Lydon zum erschütternden musikalischen Abtreibungsdrama „Bodies“ inspiriert wurde.

Lydon wollte mit der Serie nichts zu tun haben

Die Sex Pistols haben nicht von ihrem Schockpotenzial verloren, das zu vermitteln gelingt Boyle ganz wunderbar. Er bringt den Geist des Punk im London der 70er Jahre auf den Punkt. Der stets eigenwillige John Lydon wollte mit „Pistol“ übrigens nichts zu tun haben – wie damals schon mit „The great Rock’n’Roll Swindle“ nicht.

Die Sex Pistols und der Punk

Pistol
ist auf Disney+ zu sehen.

The Great Rock ’n’ Roll Swindle
Julian Temples Mockumentary von 1980 ist derzeit nur auf DVD erhältlich.

Punk in London
Der Dokumentarfilm von 1977 entstand, als die britische Punk-Bewegung auf ihrem Zenith war. Zu sehen und zu hören gibt es Bands wie The Clash, The Stranglers, The Lurkers, The Adverts, The Jam und viele andere. Auf Netflix.

The true Story of Punk
Diese vierteilige Doku (vier mal 43 Minuten) in der ZDF-Mediathek gibt einen Gesamtüberblick über die Entwicklung des Punk weit über das Jahr 1977 hinaus. Hier verbreitet tatsächlich auch Johnny Rotten alias John Lydon seine Sicht der Dinge.