Der erste Preis für Pflegerin und Pfleger des Jahres geht in diesem Jahr an ein Stationsleiter-Duo in Berlin. Pflegenotstand haben sie bei sich abgeschafft. Wie ist das möglich, wenn so viele andere in der Branche klagen?
Berlin - Pflegenotstand? Berufsflucht? Für Marie Sohn und Philipp Wiemann ist das kein Thema. Als Leitungsteam haben sie ihre Station im Berliner Alexianer St. Hedwig-Krankenhaus nach ihren Vorstellungen umgekrempelt: Wertschätzung, flache Hierarchien, familienkompatibel. Nun stapelten sich selbst in der Pandemie die Bewerbungen. Und das in der Geriatrie mit Demenzpatienten, das ist in vielen Kliniken nicht gerade ein Traumjob. Das Rezept? „Vielleicht haben wir den Zeitgeist verstanden“, sagt Marie Sohn. „Pflegenotstand kann man an der Basis retten“, ergänzt ihr Kollege. An diesem Mittwoch ist der Internationale Tag der Pflege.
Das gemischte Duo kann sich über eine Auszeichnung freuen: Sohn und Wiemann sind Deutschlands „Pflegerin und Pfleger des Jahres“. Ausgelobt hat den Preis der Personaldienstleister „Jobtour medical“. Dieses Jahr habe es mehr als 2000 Vorschläge von Angehörigen, Patienten und Arbeitskollegen für die Jury gegeben, berichtet Inhaberin Mirjam Rienth. Der Preis, im fünften Jahr vergeben, werbe für eine höhere Wertschätzung der Pflege. Das Berliner Duo bekommt zusammen 8000 Euro als Anerkennung für die Kombination fachlicher Qualifikation und großer Empathie - kurz „Herz und Mut“.
Viele Pfleger ohne Tarifvertrag
Nach den Zahlen des Statistischen Bundesamts arbeiten rund 500 000 Pflegefachkräfte in Krankenhäusern, Vorsorge- und Rehaeinrichtungen. In der Altenpflege gibt es darüber hinaus rund 1,2 Millionen Beschäftigte - noch immer ohne Branchen-Tarifvertrag. Für eine Studie interviewte die Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg zwischen November und Januar rund 1000 Pflegende in Deutschland. Neben Arbeitsüberlastung und Angst vor Ansteckung mit dem Coronavirus Sars-CoV-2 gaben viele zu Protokoll, dass ihre Hilferufe weder vor noch während der Pandemie gehört würden. Fast ein Fünftel verspürte keine Motivation mehr für den Job.
Wer der Berliner Krankenhausbewegung der Gewerkschaft Verdi zuhört, bekommt von Krankenschwestern ein ungutes Gefühl geschildert: Sie könnten dem Patientenwohl so nicht mehr gerecht werden. „Es wird gefährlich“, sagt Silvia Habekost, Anästhesiepflegerin beim kommunalen Klinikkonzern Vivantes. Operationen würden mitunter begonnen, ohne dass das OP-Team vollständig sei. „Blindflug“, nennt sie das. Ein Limit sei jeden Tag zu spüren, „weil wir zu wenig Leute haben.“ Für Habekost gibt es keinen Fachkräftemangel. „Es gibt eine Berufsflucht.“ Dabei sei das so ein toller Beruf, betont sie.
Aus der Berliner Uniklinik Charité ist zu hören, dass es einen Tarifvertrag mit Personaluntergrenzen gibt. Der Knackpunkt aber sei, dass Konsequenzen fehlten, wenn diese Grenzen ignoriert würden, sagt Meike Jäger, Verdi-Bereichsleiterin für Gesundheit in Berlin. „Keine Anreize, keine Strafe“, fasst sie zusammen. Viele Kollegen hätten keine Kraft mehr, sich um ihre eigenen Familien zu kümmern, sagt Janine Sturm, Intensivpflegerin an der Charité.
Bericht von einem anderen Stern
Was Marie Sohn und Philipp Wiemann schildern, klingt dagegen wie ein Bericht von einem anderen Stern. Das liege nicht allein an der Geschäftsführung ihrer Klinik, der Pflege wichtig sei, sagen sie. Es gehe auch ums Stationskonzept. „Wir haben die Hierarchien in den vergangenen Jahren wirksam heruntergedrückt“, sagt Wiemann. Ärzte und Pflegende arbeiteten nun deutlich mehr auf Augenhöhe. Diese Top-Down-Mentalität, Befehle von oben nach unten, kein Hinterfragen, keine Reflexion - das hätten sie einfach nicht mehr gewollt. Sie wollten einen erfüllenden Job, Partner, Familie - und Zeit für das alles. Sie sind die Wende-Generation, geboren im Osten Berlins, im selben Krankenhaus, beide mit Zwillingsgeschwistern. Alles Zufall. Doch das gemischte Leitungsteam mit der Frau als Chefin, das ist kein Zufall.
Marie Sohn ist 33, arbeitet Vollzeit, ihre Kinder sind vier und sechs. Sie macht ihren Master „Management von Organisation und Personal im Gesundheitswesen“. Ihr Vize Wiemann, 33, Gesundheitspädagoge mit Bachelor, hat die „Pflegefachkraft Geriatrie“ draufgesattelt. Im August kommt sein zweites Kind, später Elternzeit.
Auf ihrer Station gibt es unter anderem einen eigenen Aufnahmedienst, eine Sekretärin mit Pflege-Bachelor, einen Essensdienst, der bis ans Krankenbett serviert und eine Bettenreinigung. Die eingesparte Zeit steckten sie in die Krankenversorgung und in ihre Leute, sagt das Duo. Sohn sei die Praktische, die zeige, wie man einen Katheter lege. Wiemann erkläre, wie viele Arten von Kathetern es gebe - und was es mit der Anatomie auf sich habe. Es sei Arbeitsteilung nach Neigung. Beide legten Wert auf Erklärungen, wofür eine Pflegehandlung gut sei. Dieses „Warum“ hat Marie Sohn in ihrer eigenen Ausbildung vermisst.
26 Mitarbeiter gibt es nun auf ihrer Geriatrie-Station, früher waren es knapp 10 für die 16 Patientenbetten. Entstanden sei mit den Jahren auch auf Basis des Pflegestärkungsgesetzes ein Mix aus examinierten Fachkräften, Pflegehelfern, Demenzbegleitern und Betreuungsassistenten. Dazu kämen Hospitanten und junge Leute, die ein freiwilliges soziales Jahr machten. „Wir fragen jeden, was er am liebsten machen möchte. Und dann schauen wir, was geht“, sagt Sohn. Wertschätzung sei ein hohes Gut. Sie habe früher erlebt, wie schlechte Stimmung auf Klinikstationen so ziemlich alles kaputt machen könne.
Patienten starben, Mitarbeiter infizierten sich
Die Pandemie brachte auch ihre Station an eine Grenze. Patienten starben, Mitarbeiter infizierten sich, darunter auch die Chefin. Sie erkrankte schwer. „Das war wie eine Kriegssituation“, sagt sie. „Wer ist am nächsten Tag noch da?“ Ihr Team machte weiter - und blieb.
Um die Pflege attraktiver zu machen, hatte die Bundesregierung schon vor der Corona-Krise eine Reihe von Maßnahmen angeschoben. Sie zielten etwa auf höhere Löhne, weniger Belastungen, zusätzliche Stellen und mehr Azubis. Gibt es ihn dennoch, den „Pflexit“?
9000 Menschen hätten dem Pflegeberuf in der Pandemie den Rücken gekehrt, hieß es im März von Verbänden. Die Bundesagentur für Arbeit bestätigte das in der vergangenen Woche nicht. Die Zahl der Beschäftigten in der Pflege sei während der Corona-Pandemie entgegen landläufiger Auffassung gestiegen. In den vergangenen fünf Jahren sei in der Pflege ein Beschäftigungsplus um 14 Prozent zu verzeichnen.
An der breiten Basis aber scheint ein anderer Eindruck vorzuherrschen: Zum „Walk of Care“, der Berliner Demonstration am Tag der Pflege, heißt es: „Unsere Stimmen wurden bisher nicht gehört und die Politik hat nicht gehandelt. Im Jahr 2021 steht die Pflege so prekär da wie noch nie.“