Manche Kinder glauben, sie müssten perfekte Erwachsene sein. Foto: Adobe Stock//Robert Kneschke

Warum viele Kinder heute sehr hohe Ansprüche an sich selbst haben – und wie Eltern zu diesem ungesunden Perfektionismus beitragen.

Die geschriebenen Buchstaben sehen aus wie gedruckt, die Matheaufgaben sind ratzfatz fehlerfrei erledigt. Jetzt nur noch lesen. Doch da blockt der Erstklässler ab, hat angeblich keine Lust, fängt an, Quatsch zu machen. Dabei kann er gut lesen – aber eben so, wie sich das anhört, wenn man noch nicht einmal alle Buchstaben gelernt hat. Stockend, mit Fehlern, langsam. Und das ist ein Problem für ein Kind, das sehr hohe Ansprüche an sich selbst stellt. Das gern so perfekt und schnell lesen möchte wie Erwachsene.

„Studien zeigen, dass Perfektionismus bei Schülerinnen und Schülern in den letzten 20 Jahren zugenommen hat“, sagt die Psychologin und Buchautorin Stefanie Rietzler aus Zürich. Die Ursachen dafür sind vielfältig.

Die Angst ist erblich

Grundsätzlich ist es so, dass Perfektionismus beziehungsweise die Angst zu versagen erblich sind. „Erblichkeitsschätzungen gehen aber von maximal 50 Prozent aus, da ist also noch viel Luft nach oben, inwieweit sich das ausprägt“, sagt Christine Altstötter-Gleich, Psychologin und Perfektionismus-Expertin von der Rheinland-Pfälzischen Technischen Universität Kaiserslautern-Landau.

Hier kommt das soziale Umfeld ins Spiel: das Leben in einer Leistungsgesellschaft, keine gute Fehlerkultur in der Schule, wo häufig das Ergebnis mit Noten bewertet wird, statt dass die Bemühungen auf dem Weg dahin gesehen werden, ständiges Vergleichen in sozialen Medien und das Verhalten der Eltern. Kinder lernen am Modell und die Eltern nehmen dabei eine besondere Vorbild-Rolle ein.

Stefanie Rietzler hört in ihren Beratungen von Kindern häufig Sätze wie: „Bei einer schlechten Note malt mein Vater gleich den Teufel an die Wand und meint, dass ich sitzenbleibe.“ Oder: „Meinen Eltern ist es so wichtig, dass wir ein gutes Bild abgeben und sie sich nicht für uns schämen müssen.“ Mit solchen Aussagen tragen Eltern dazu bei, Perfektionismus bei Kinder zu schüren.

„Es gibt Eltern, die sich selbst über ihre perfekten Kinder definieren, die ihre eigenen Ansprüche auf das Kind übertragen“, sagt Christine Altstötter-Gleich. Hinzu kommt eine gewachsene Ängstlichkeit vor der Zukunft in der Gesellschaft, die viele Eltern dazu verführt, Druck auf ihre Kinder auszuüben, damit sie im Leben später einen möglichst guten Weg gehen können.

Fehler gehören zum Leben

„Grundsätzlich ist es auch nichts Schlechtes, Kinder zu fordern“, sagt Christine Altstötter-Gleich. Allerdings müsse dies einhergehen mit einem gesunden Umgang mit dem Scheitern. „Kinder versagen ständig, weil sie ja noch so viel lernen. Von klein auf stellt sich da die Frage, wie Eltern darauf reagieren.“ Zu sagen: „Ist doch nicht so schlimm!“ hält sie für genauso falsch wie grundsätzlich alles zu loben, was das Kind tut.

„Es muss klar sein, dass Fehler zum Leben dazugehören. Dass Dinge mal besser und mal schlechter klappen. Dass man sich darüber natürlich ärgern darf. Und dass man Unterstützung dabei bekommt, es nächstes Mal vielleicht besser zu machen“, sagt Christine Altstötter-Gleich.

Kinder, die nicht gleich alles hinschmeißen, wenn es nicht auf Anhieb klappt, die eine gute Frustrationstoleranz haben und wissen, dass die Wertschätzung ihrer Eltern nicht an ihre Leistung gebunden ist, kommen besser damit klar, wenn sie mal scheitern.

„Wenn solche Menschen dann eine hohe Messlatte an sich selbst anlegen, spricht man eher von gesundem Exzellenzstreben denn von Perfektionismus. Es wird zwar motiviert an Zielen gearbeitet, aber nicht verbissen. Und wenn mal etwas nicht klappt, fühlen sie sich nicht gleich auf ganzer Ebene als Versager“, sagt Stefanie Rietzler.

Bei einer ungesunden Form des Perfektionismus kommen zu hohen Zielen jedoch noch Versagensängste hinzu. „Das kann so weit führen, dass ein Kind sehr viel auf eine Prüfung lernt, die Sachen gut kann, dann aber trotzdem nicht in die Schule geht“, sagt Christine Altstötter-Gleich.

In der Regel wird der Selbstwert von Kindern mit eher ungesunden perfektionistischen Tendenzen sehr stark davon geprägt, welche Leistung sie erbringen. „Sie glauben, sich Liebe und Zuwendung verdienen zu müssen, indem sie besonders leistungsstark auftreten, und fürchten sich davor, dass ihr Umfeld enttäuscht oder abweisend reagieren könnte, wenn sie keine makellose Glanzleistung erbringen“, sagt Stefanie Rietzler.

Es wird emotional

Klappt mal etwas nicht so wie gewünscht, brechen sie schnell in Tränen aus oder werden wütend. „Da werden ganze Seiten wegen eines kleinen Fehlers ausradiert, Texte zerrissen oder Musikinstrumente auf den Boden geschmettert“, sagt Stefanie Rietzler.

Für viele Eltern und Lehrer ist es schwierig zu verstehen, warum sich ein Kind, dass etwas eigentlich so gut macht, mit so wenig Selbstvertrauen und so vielen Sorgen kämpft oder so emotional reagiert. „Aber perfektionistische Kinder können Erfolge nicht als Sicherheitsquelle nutzen“, sagt Stefanie Rietzler und nennt folgendes Beispiel: Haben sie beispielsweise eine gute Note in einer Klassenarbeit geschrieben, sehen sie das nicht als Ergebnis ihrer guten Vorbereitung oder ihres Könnens. Sondern da war eben der Test einfach, die Lehrkraft hat ein Auge zugedrückt, sie hatten ausnahmsweise Glück. Ihre Angst, nicht zu genügen, bleibt bestehen.

Weshalb hilft es ihnen auch nicht weiter, wenn Lehrer oder Eltern versuchen, sie umzustimmen? („Eine Zwei ist doch gut!“ „Du liest doch schon prima.“ „Du hast doch ein tolles Tor geschossen.“) „Perfektionistische Kinder fühlen sich dadurch rasch unverstanden. Hilfreicher ist es, zuzuhören und die Empfindungen des Kindes ernst zu nehmen“, sagt Stefanie Rietzler.

In einem ruhigen Moment könne man dann nochmals auf die Situation zu sprechen kommen und behutsam nachfragen: „Was meinst du damit, dass du dich dumm fühlst? Und wenn deine Freundin eine Zwei schreibt, ist sie dann auch eine Versagerin? Warum sie nicht, aber du?“

Ein gutes Vorbild

Außerdem können Eltern viel erreichen, wenn sie selbst als gutes Vorbild vorangehen. Kinder registrieren genau, wie Vater oder Mutter damit umgehen, wenn ihnen das Essen anbrennt, sie einen Termin verschwitzen oder sich ihnen gegenüber falsch verhalten. Es sind die kleinen Signale. Wird der Fehler zugegeben? („Ich hätte dich nicht anschreien dürfen.“) Macht man sich deswegen selbst fertig? („Das hätte nicht passieren dürfen!“) Oder ärgert man sich zwar kurz, bestellt dann aber einfach eine Pizza oder entschuldigt sich für den verpassten Termin und vereinbart schnell einen neuen?

„Es ist auch gut, wenn Kinder erleben dürfen, dass sich auch ihre Eltern mal auf etwas Neues einlassen, das Schritt für Schritt probieren und dabei auch mal etwas schiefgeht“, sagt Stefanie Rietzler. Also beispielsweise die Fahrradbremse selbst zu reparieren oder sich in die Französisch-Grammatik einzuarbeiten, statt das dem Partner zu überlassen, der darin fitter ist. „Außerdem können wir den Kindern vorleben, dass Zeit nicht stets sinnvoll genutzt werden muss und wir uns alle Pausen zugestehen“, so Rietzler.

Info

Umgang mit Leistungsdruck und Noten
Stefanie Rietzler, Autorin des Ratgebers „Clever lernen“ (Verlag Hogrefe, ca. 25 Euro) leitet die Akademie für Lerncoaching in Zürich. Folgende Tipps hat sie für Eltern, wie sie ihre Kinder stark machen können für Bewertungen in Schule und Sport: