Dieter Ott tastet sich mit seinem Blindenstock die Treppen am Bahnhof in Fellbach hinunter. Foto: Eva Schäfer

Dieter Ott pendelt täglich von Fellbach nach Untertürkheim zur Arbeit. Wie geht das, wenn man nur Dunkel und Hell unterscheiden kann – und wo sind besonders kritische Stellen?

Er tastet sich Schritt für Schritt vor mit seinem Stock. Dieter Ott geht die Treppen Stufe um Stufe vom Bahnsteig von Gleis 3 und 4 im Fellbacher Bahnhof hinunter. „Er ist mein verlängerter Zeigefinger“, sagt er über seinen Blindenstock. Seine Sehkraft könne nicht mehr in Prozent gemessen werden, erklärt der Fellbacher. Jedoch sei sie etwas schwankend, daher könne er Hell und Dunkel unterscheiden.

Dieter Ott hat keine Alternative zu Bus und Bahn

Dieter Ott pendelt jeden Tag von Schmiden nach Stuttgart-Untertürkheim zu seiner Arbeit in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderungen. Um 6.45 Uhr geht er aus dem Haus. Von Schmiden geht er zu Fuß zum Fellbacher Bahnhof, nimmt die S2 bis nach Bad Cannstatt und fährt weiter mit dem Schienenersatzverkehr zur Stadtbahn-Haltestelle Blick in Untertürkheim. Wegen der Gleisbauarbeiten ist in Bad Cannstatt bis zum 14. September ein Bus-Ersatzverkehr eingerichtet.

Ein Vorschlag von Dieter Ott: Akustische Ansagen der S-Bahn neben den Fahrplänen am Bahnhof anbringen. Foto: Eva Schäfer

Dieter Ott kennt sich aus mit dem ÖPNV. Er hat keine Alternative zu Bus und Bahn. „Das ist meine Mobilität “, sagt er. Kaum einer könne wohl jeden Tag Taxi fahren. Da er jeden Tag unterwegs ist, sind ihm viele Stolperfallen aufgefallen. Die oberen fünf Treppen vom Bahnsteig an Gleis 3 und 4 gehören dazu. Sie sind nur notdürftig ausgebessert worden. „Hier gibt es einige Unebenheiten“, sagt Ott. Was er vermisst, ist eine gelbe Markierung am Treppenabsatz. „Es muss wohl heute alles schnell, schnell gehen“, sagt er.

Die gelbe Markierung soll sehbehinderte Menschen vor Treppenstürzen bewahren. Aber auch andere Fahrgäste, die in Eile und unaufmerksam sind, können von den Markierungen profitieren. Am hilfreichsten wäre es, wenn die Gestaltung einheitlich an den Bahnhöfen vorgenommen würde. Einiges, was Blinden und Sehbehinderten helfe, könne auch für Sehende von Vorteil sein, sagt Ott.

Ein weiteres Beispiel: die Haltestelle für die Busse des Schienenersatzverkehrs. Bis zum 6. September müssen Reisende, die zum Sommerrain oder zur Nürnberger Straße wollen, in den Schienenersatzbus in Fellbach steigen. Der startet am selben Bussteig wie die Linie 60, die nach Oeffingen rollt. „Das ist auch für Nicht-Blinde verwirrend“, sagt Ott. In der Tat fragen immer wieder Leute beim Busfahrer nach, ob er zum Sommerrain fährt, und sie sind sich nicht sicher, ob sie in den richtigen Bus steigen.

Sein Vorschlag: Akustische Ansagen neben den Fahrplänen anbringen

Dieter Ott macht einen Vorschlag: Wenn die Schienenersatzbusse auf der Rückseite des Fellbacher Bahnhofs in der Schaflandstraße enden und starten würden, wäre dieses Verwirrspiel erledigt. Apropos Verwirrspiel: Drückt man auf die akustischen Ansagen am Bussteig, werden die Verbindungen der S-Bahnen der Linien 2 und 3 aufgezählt. Bei den Ansagen sind die aktuellen Einschränkungen durch die Stammstreckensperrung und den Schienenersatzverkehr nicht eingepflegt. Dieter Ott würde es hilfreicher finden, wenn es am Bussteig akustische Ansagen für die Busse geben würde. Und die Ansagen für die S-Bahnen am Bahnsteig bei den Fahrplänen der S-Bahn angebracht wären. „So wäre es getrennt und eine eindeutige Sache“, sagt er.

Die taktilen Leitsysteme sind zwar auf dem Bahnhofsgelände angebracht, fehlen aber auf der anderen Seite am Fußgängerübergang in der Eisenbahnstraße. Foto: Eva Schäfer

Immer wieder habe er Anregungen an die Bahn weitergegeben. Vertreter der Bahn hätten auch schon bei ihm nachgefragt. Doch leider habe es bisher noch kein Ergebnis gegeben.

Dieter Ott hat schleichend seine Sehkraft verloren

Dieter Ott war nicht von Geburt an blind. „Von jetzt auf nachher kam die Nachtblindheit“, erzählt der 52-Jährige. Das sei im Jahr 1983 gewesen. „Die Krankheit ist schleichend, sie tut nicht weh, und daher merkt man sie erst nicht“, sagt er. Retinitis pigmentosa gehört zu den erblichen Netzhauterkrankungen. Die ersten Symptome sind ein gestörtes Sehvermögen in der Dämmerung und eine beginnende Einengung des Gesichtsfeldes. In Deutschland leiden laut dem Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband etwa 30.000 bis 40.000 Menschen an der Krankheit, weltweit rund drei Millionen Menschen. Retinopathia pigmentosa ist demnach eine der häufigsten Ursachen für einen Sehverlust im mittleren Alter.

Einige Zeit sei er noch ohne Blindenstock gelaufen, dann aber immer mal wieder im Graben gelegen. Es sei ihm erst nicht leichtgefallen, die Krankheit anzunehmen. Doch es gebe keine andere Wahl. „Ich habe mich entschieden, damit zu leben“, sagt der 52-Jährige. Wichtig sei es, am sozialen Leben teilnehmen zu können – und dazu sei die Mobilität ein Schlüssel.

Das Hören, Tasten, Riechen, Schmecken wird umso wichtiger

Wenn das Sehen nicht mehr klappt, arbeiten die anderen Sinnesorgane, das Hören, Tasten, Riechen, Schmecken, umso intensiver, schildert Ott. Die S-Bahn hört er beim Einfahren, das Piepsen beim Öffnen der Türen. Auch die Ansagen, auf welchem Gleis die Bahn einfährt, sind wichtig. Derzeit rollt die S2 oft auf Gleis 3 anstatt auf Gleis 4 wie gewohnt ein. Es wird angezeigt und auch durchgesagt.

Auf seinem Heimweg vom Bahnhof bedauert er, dass die taktilen Leitsysteme zwar auf dem Bahnhofsgelände angebracht sind, aber am Fußgängerübergang – sowohl in der Eisenbahnstraße als auch in der Schaflandstraße auf der anderen Seite – fehlen. Dazu gehören auch sogenannte Aufmerksamkeitsfelder, die auf dem Boden angebracht sind und als taktile Orientierungshilfe dienen.

Bedauerlich findet er es auch, dass der Fußgängerweg nach den Bauarbeiten auf dem SDK-Gelände viele Schrammen hat. Bei Regen berge das Rutschgefahr. Eine „gefährliche Ecke“ sei der Ausgang der Unterführung auf der Rückseite des Bahnhofs, wenn ihm Schüler und Radler „entgegenschießen“.

Doch wie kommt man überhaupt sehbehindert oder blind im ÖPNV klar, wenn schon Sehende Orientierungsprobleme haben? „Ich hatte einige Trainings“, sagt er. Ohne diese hätte er es nicht geschafft, am Bahnhof klarzukommen. Die Trainings habe er über die Krankenkasse erhalten. Er ermuntert andere Sehbehinderte, diese anzunehmen. „Man muss sich trauen“, sagt er. Sich etwas trauen, das musste er mit der Erkrankung immer wieder aufs Neue. Dazu zähle auch, Schwächen zu zeigen. „Zu zeigen, wenn man etwas nicht kann, das ist auch eine Stärke“, sagt Dieter Ott und macht sich auf die letzten Meter auf seinen Weg nach Hause in Schmiden.