Die Sonnenbeschwörerin: Jessie Mei Li als Alina Starkov Foto: Netflix

Die Fantasyserie „Shadow and Bone“ führt seit ihrem Start vor drei Wochen die Netflix-Charts nicht nur in Deutschland, sondern auch fast überall im Rest der Welt an. Dass das spektakuläre Epos fortgesetzt wird, gilt jetzt als so gut wie sicher. Doch was ist dran an dem Hype?

Stuttgart - Das Königreich Ravka ist ein zerrissenes Land. General Zlatan im Westen probt den Aufstand gegen den Zar im Osten, der seinen Hofstaat von General Kirigans Grisha-Zauberarmee beschützen lässt. In Norden haust das kriegerische Volk der Fjerdan, im Süden harren die technisch überlegenen Shu auf ihre Chance, eine neue Weltordnung zu erschaffen. Die größte Gefahr lauert aber mitten im Ravka selbst. Denn dort hat sich vor vielen Jahren ein magischer Riss aufgetan, der das Land teilt. Und in dieser Schattenflur hausen grausige Monster. Wer diese finstere Ödnis durchqueren muss, besteigt ein Skiff, ein Sandsegelboot, und hofft mucksmäuschenstill darauf, es von den Volkra unbemerkt auf die andere Seite zu schaffen. Das gelingt selten.

Warten auf die „Herr der Ringe“-Serie

In der Netflix-Serie „Shadow and Bone“ ist die Schattenflur das Gegenstück zu dem Land des ewigen Winters, in dem in der Serie „Game of Thrones“ nördlich der Mauer grausige Kreaturen lauerten. Zwei Jahre nachdem das Fantasyepos nach George R. R. Martins Romanen zu Ende gegangen ist, suchen die Streamingdienste immer noch nach einer Show, die an die Erfolge der Superlativ-Serie anknüpfen kann. Bisherige Kandidaten sind gescheitert. Das Science-Fiction-Drama „Westworld“ erwies sich als zu verkopft, um für ein Massenpublikum zu taugen, die Videospiel-Adaption „The Witcher“ geriet zu plump, die Neil-Gaiman-Serie „American Gods“ verhedderte sich in ihren vielen Handlungssträngen, und die Fantasyserien „His Dark Materials“ und „Carnival Row“ wurden einfach übersehen.

Zumindest bis Ende des Jahres die „Herr der Ringe“-Serie startet, die sich Amazon Prime rund eine Halbe Milliarde Dollar kosten lässt, ist darum der vielversprechendste Kandidat auf die „Game of Thrones“-Nachfolge die Serie „Shadow and Bone", die auf den Romanen der US-Autorin Leigh Bardugo beruht. Deren Bücher spielen im sogenannten Grishaverse, einer fantastisch-düsteren Welt, in der es allerdings nicht ganz so brutal zugeht wie in Martins Westeros. Bardugos Bücher sind wie die „Harry Potter“- oder die „Tribute von Panem“-Reihen Young-Adult-Romane, die sich eigentlich an jugendliche Leser richten. Kein Wunder also, dass David Heyman, der die „Harry Potter“-Filme produziert hat, 2012 plante, „Goldene Flammen“, den ersten Band von Bardugos „Legenden der Grisha“-Trilogie, zu verfilmen. Daraus wurde allerdings nichts.

Ein Waisenkind wird zur Sonnenbeschwörerin

Eric Heisserers Serienfassung testet die Grenzen des Zeigbaren, was Gewalt- und Sexszenen angeht, nicht so lustvoll aus, wie damals „Game of Thrones“, bleibt viel zahmer, zurückhaltender und jugendfrei. Und im Kern wird eine etwas an „Harry Potter“ erinnernde Coming-of-Age-Geschichte erzählt. Alina Starkov (Jessie Mei Li) hat jedoch als Kind erfolgreich ihre außergewöhnlichen Kräfte unterdrückt, um nicht zu den anderen Grisha (so heißen in dieser Welt die magisch Begabten) in den Kleinen Palast (das „Shadow and Bone“-Pendant zu Hogwarts) zu müssen.

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Lieber wollte sie mit ihrem Freund Mal (Archie Renaux) im Waisenhaus von Kerazim ein ganz normales Leben führen. Doch als die beiden einige Jahre später in der Schattenflur von den Volkra angegriffen werden, brechen Alinas Kräfte unwillkürlich aus ihr hervor – und grelles Licht vertreibt und vernichtet die Monster. Damit erregt die Kartografin Alina die Aufmerksamkeit des Generals Kirigan (Ben Barnes), den man auch den Dunklen nennt und der besondere Pläne für diese einzigartige Sonnenbeschwörerin hat.

Wunderbar respektloser Umgang mit der Vorlage

Was die Serie „Shadow and Bone“ zum bisher vielleicht geeignetesten „Game of Thrones“-Nachfolger macht, ist nicht diese Geschichte, sondern wie um sie herum erzählt wird. Denn die Story aus „Goldene Flammen“ dient Eric Heisserer („Arrival“, „Bird Box“) nur als Handlungsskelett für die erste Staffel. Er erzählt den Jugendbuch-Besteller nicht brav nach, sondern wirbelt Leigh Bardugos Geschichten aus dem Grishaverse von Anfang an durcheinander, vermengt die Story aus der „Legenden der Grisha“-Trilogie mit der aus „Lied der Krähen“ und „Das Gold der Krähen“, ist im Umgang mit den Motiven respektlos genug, um aus dem Stoff eine eigenständige spektakuläre Serie zu machen. Die Szene etwa, in der Alina und die Krähenbande im Kleinen Palast aufeinandertreffen, gibt es so in den Büchern nicht, doch sie zählt zu den dramaturgischen Höhepunkten der Show.

In der ersten „Shadow and Bone“-Staffel lenkt diese kuriose Krähenbande, zu der Kaz (Freddy Carter), Inej (Amita Suman) und Jesper (Kit Young) gehören, die von Ketterdam nach Ravka gereist sind, um bei einem riskanten Job reich zu werden, immer wieder wunderbar von der Sonnenbeschwörerinnen-Schicksalsstory ab. Außerdem darf man in einem anderen Handlungsstrang dabei zuschauen, wie die ehemalige Grisha-Soldatin Nina (Danielle Galligan) erst vom Hexenjäger Matthias (Calaghan Skogman) entführt wird, sich nach einem Schiffbruch aber eine herrlich trotzige Romanze anbahnt.

Es geht auch um Rassismus und Diversität

Durch die Verschränkung dieser Geschichten blickt die Serie weit über den Horizont der Bücher hinaus, erzählt nebenbei von der Rolle der Frau in der Gesellschaft, von Rassismus, Diskriminierung, Diversität, von Krieg, Verrat und Intrigen – und von einer Welt im Umbruch: Denn das magische Zeitalter der Grisha geht zu Ende, das industrielle Zeitalter bricht an – etwa in Form der Maschinengewehre aus Fjerda, gegen die Feuer- oder Windzauber machtlos sind. Wenn das nicht für ein neues „Game of Thrones“ reicht, was dann?

Leigh Bardugo und das Grishaverse

Autorin
Leigh Bardugo (Jahrgang 1975) wurde in Jerusalem geboren und ist in Los Angeles aufgewachsen. Bevor sie ihren ersten Roman schrieb, arbeitete sie unter anderem als Journalistin und als Special-Effects-Designerin beim Film.

Fantasywelt
Die meisten Bücher Bardugos spielen im sogenannten Grishaverse. Dort befindet sich etwa das Königreich Ravka, das dem zaristischen Russland ähnelt, oder der Inselstaat Kerch, dessen Hauptstadt Ketterdam an das Amsterdam des 17. Jahrhundert erinnert.

Magie
Die Grisha, die in dieser Welt die meiste Macht haben, verfügen über magische Kräfte, können zum Beispiel Herzen zum Stillstand bringen (Korporalki), Stürme heraufbeschwören (Ätheralki) oder Stein, Holz oder Glas verwandeln (Materialki).

Bücher
Im Grishaverse spielen etwa die Trilogie „Legenden der Grisha“ (2012-2014), der Krähen- (2017-2018) und der „Thron aus Gold und Asche“-Zweiteiler, von dem bisher nur Band eins, „King of Scars“, vorliegt. Bardugos Bücher erscheinen in Deutschland im Knaur-Verlag.

Serie
Alle acht einstündigen „Shadow and Bone“-Episoden sind seit Freitag, 23. April, bei Netflix verfügbar.