Die Länder brauchen Milliarden vom Bund zur Verdoppelung der Fahrgastzahlen in Bus und Bahn. Berlin müsse liefern, fordert Verkehrsminister Winfried Hermann. Foto: Lichtgut/Julian Rettig

Der Verkehrsverbund Stuttgart (VVS) will die Coronakrise hinter sich lassen und mit neuen Angeboten Fahrgäste gewinnen. Die Finanzierung wird dabei zum Knackpunkt. Bis 2022 soll es erste Städte geben, die eine eigene Abgabe für den ÖPNV erheben.

Stuttgart - Handel, Kultur, Gastronomie, Sport – alle wollen raus aus Corona. Auch der Öffentliche Personennahverkehr. In der Hochphase der Pandemie hatten Busse und Bahnen 70 Prozent ihrer Fahrgäste verloren. Bund und Länder retten den ÖPNV mit sieben Milliarden Euro, Kommunen und Kreise stützen Betriebe. Die Nutzerzahlen ziehen an, mit der Kampagne #besserweiter wird um Fahrgäste geworben. In einer von Lokalchef Jan Sellner moderierten Diskussion im Pressehaus, zu der unsere Zeitung am Montag eingeladen hatte, bleibt es nicht bei der Bestandsaufnahme. Die Verantwortlichen nehmen Angebotsverbesserung und neue Finanzierungsformen in den Blick.

Wie ist die Lage aktuell?

Auf 70 Prozent des Vorkrisenniveaus haben sich die Fahrgastzahlen bisher berappelt, so Horst Stammler, einer der Geschäftsführer des Verkehrs- und Tarifverbunds Stuttgart (VVS). Erstmals seien ihm am Montag wieder Schulklassen auf Ausflugsfahrt entgegengekommen. „Das hat mich richtig gefreut“, sagt der VVS-Chef. Sorgen machen ihm fehlende Veranstaltungen wie das Volksfest und Messen. Das reiße ein Loch: „Ohne Volksfest fehlen uns sechs Millionen Fahrten!“

Gibt es Unterschiede in der Auslastung?

Offenbar durchaus. Thomas Moser, der Vorstandssprecher der Stuttgarter Straßenbahnen AG (SSB), bestätigt Stammlers Befund, erkennt aber örtliche Besonderheiten. Im Neckartal mit viel produzierendem Gewerbe seien Busse und Bahnen besser gefüllt als auf den Fildern, wo sich Dienstleistungsstandorte konzentrieren und sich Homeoffice bemerkbar mache. „Die Freizeitanlässe kommen wieder“, zeigt sich Moser optimistisch.

Hat Corona die Nachfrage verschoben?

In der S-Bahn lasse sich eine „Entzerrung der Hauptverkehrszeit“ feststellen, sagt Dirk Rothenstein. „Retten wir das in die Zukunft?“, fragt der Geschäftsführer der S-Bahn Stuttgart. Die Nutzung besser über den Tag zu verteilen, ist das Ziel. Die Spitze zu spreizen, habe man schon 2014 versucht, und Schulen angeschrieben, sagt Michael Münter, Leiter des OB-Referats für Strategische Planung und Nachhaltige Mobilität. Aber jede entscheide für sich. „Die Entzerrung ist damals nicht gelungen“, räumt Münter ein.

Wie steht es um die Sicherheit? Die Impfquoten sind gestiegen, die Inzidenzwerte gesunken, in Fahrzeugen und Tiefhalten gilt Maskenpflicht. „Es gibt rund ein Dutzend Untersuchungen, die zeigen, dass der ÖPNV sicher ist, das müssen wir kommunizieren“, fordert Ulrich Weber, der Landesgeschäftsführer des Verbands Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV). „Wir werden an der Maskenpflicht nicht rütteln. Sie ist die Garantie gegen die Angst vor Ansteckung“, verspricht Verkehrsminister Winfried Hermann (Grüne). „Das Unbehaglichkeitsgefühl wird zunehmen, wenn man wieder zu viert in der Bahn zusammensitzt“, gibt Regionaldirektorin Nicola Schelling zu bedenken. Der Verband Region Stuttgart hat 58 neue S-Bahnen geordert. „Wir dehnen das Platzangebot maximal aus“, so Schelling, „die S-Bahn ist das zentrale Verkehrsmittel“.

Was kommt nach Corona? Die grün-schwarze Koalition im Land hat den Klimaschutz und den ÖPNV-Ausbau vereinbart. „Ohne Kapazitäten kann es nach Corona keinen Schub geben“, sagt Hermann. Wenn die vierte Welle aufbrande, „werden wir wohl noch über Hilfen für das Jahr 2022 nachdenken müssen“, befürchtet er. Auch die Stadt stelle sich auf Finanzierungsfragen ein, so Münter. Doch der Blick reicht weiter. „Es gibt Einigkeit, dass wir die Nutzerzahlen bis zum Jahr 2030 verdoppeln müssen“, erinnert Hermann. Bis zum Jahr 2026 solle es den Halbstundentakt auf dem Land und den Viertelstundentakt im Ballungsraum geben.

Reicht die Infrastruktur? Neben mehr Fahrzeugen werden für die Verdoppelung Strecken gebraucht. Zum Beispiel die U 6 vom Fasanenhof zur Messe/Flughafen und die S 2 bis Neuhausen. „In eine S-Bahn passen 1000 Menschen. Das schafft kein anderes Verkehrsmittel“, verdeutlicht Rothenstein die Überlegenheit. Hermann hadert mit langen Genehmigungs- und Bauzeiten, Weber mit der Förderung. „Da ist bis 2030 eine Milliardenlücke. Die Nutzerfinanzierung wird nicht ausreichen. Wir brauchen ein Solidarmodell“, sagt er – und verweist auf den Koalitionsvertrag.

Lesen Sie aus unserem Angebot: VVS setzt die Preise hoch

Wie läuft die Finanzierung? Das Thema Einnahmen ist heikel. Auf Preiserhöhungen könne man nicht verzichten, so Stammler, 2,5 Prozent bedeuteten für den VVS 14 Millionen Euro. Die Länder bräuchten vom Bund jährlich 1,5 Milliarden Euro mehr, bis 2030 schlicht doppelt so viel Geld wie bisher, fordert Hermann, „sonst erreichen wir die Ziele nicht“. Bei der Nahverkehrsabgabe bekommt die Einigkeit Risse. „20 Euro Abgabe, 20 Euro günstigeres Ticket“ – es gebe Kommunen und Kreise, die das wollten, so der Minister. OB Nopper sei gegen einen Alleingang, so Münter. Im Gemeinderat sieht es womöglich anders aus. „Kein Flickenteppich in der Region!“, warnt Schelling. „Den werden wir nicht verhindern können, das ist Sache der Kommunen“, retourniert Hermann. Er will 2022 Entscheidungen. Zunächst aber ist er am Mittwoch beim Finanzminister. Es geht um Millionen für die Tickets der Schüler, Azubis, Studierenden und Jugendlichen – Zielrichtung sind 365 Euro pro Jahr bei landesweiter Gültigkeit ab dem Schuljahr 2022/2023.

Ausschnitte der Diskussion zeigen wir in einem Video unter stzw.info/events