Für Elon Musk läuft es mit Twitter nicht rund. Kommt jetzt eine Trotzreaktion? Foto: dpa/Susan Walsh

Für den Umgang auf Twitter könnte es ein wegweisendes Urteil sein, das der Antisemitismusbeauftragte des Landes Michael Blume gerade erstritten hat. Oder bedeutet es sogar mehr?

Der baden-württembergische Antisemitismusbeauftragte Michael Blume (CDU) hat vor dem Landgericht Frankfurt ein wegweisendes Urteil gegen den Kurznachrichtendienst Twitter erstritten. Worum geht es? Was sind die Folgen? Und was macht jetzt Elon Musk?

Worum ging es vor Gericht?

Ein rechter Journalist aus Israel hatte auf Twitter in mehreren Tweets behauptet, der baden-württembergische Antisemitismusbeauftragte Michael Blume habe eine „Nähe zur Pädophilie“, interessiere sich für junge Asiatinnen und habe einen „Seitensprung“ begangen. Dies schloss er offenbar aus einem Tweet, in dem Blume einer Amerikanerin zum 29. Geburtstag gratuliert hatte. Der Mann beschimpfte Blume außerdem als Antisemiten.

Was sagt das Urteil?

Das Frankfurter Landgericht hat Twitter per einstweiliger Verfügung auferlegt, nicht nur die entsprechenden Tweets zu löschen, sondern auch inhaltsgleiche Äußerungen zu entfernen. Auch die Klassifizierung Blumes als Antisemit müsse unterbleiben, wenn sie nicht der öffentlichen Meinungsbildung diene, sondern – wie im vorliegenden Kontext erkennbar – lediglich emotionale Stimmung gegen den Antisemitismusbeauftragten erzeugen solle.

Wer hat das Urteil erstritten?

Michael Blume ließ sich vor Gericht von dem Würzburger Medienanwalt Chan-jo Jun vertreten. Der 48-jährige Sohn koreanischer Eltern hat auch schon die Grünen-Politikerin Renate Künast bei ihrem Kampf gegen Hass-Postings auf Facebook erfolgreich unterstützt und ein wegweisendes Urteil erwirkt – unter anderem ebenfalls vor der Pressekammer des Frankfurter Landgerichts.

Wie hat Twitter argumentiert?

Der Kurznachrichtendienst verwies darauf, dass der entsprechende Account des israelischen Journalisten gesperrt sei. Darüber hinaus sei es der Plattform, die längst Systemrelevanz bei der Meinungsbildung besitzt, in Anbetracht von 237 Millionen Nutzern nicht zumutbar, solche Moderationsaufgaben auszuüben.

Hat Twitter damit nicht sogar recht?

Einerseits können gesperrte Accounts jederzeit wieder freigeschaltet werden. Tatsächlich hat der neue Twitter-Eigentümer Elon Musk einen Tag vor der mündlichen Verhandlung in Frankfurt genau dies angekündigt: dass er gesperrte Accounts wieder freischalten will. Im Verfahren spielte diese Ankündigung durchaus eine Rolle. Denn damit wären alle kritisierten Tweets wieder online. Zum anderen bot Twitter in der Vergangenheit – wie alle anderen großen Netzwerke auch – durchaus ein Beschwerdeportal an. Theoretisch sind dort Beschwerden immer noch möglich. In der jüngsten Zeit häuften sich allerdings die Berichte, dass Meldungen möglicherweise unzulässiger Tweets nach einer angeblichen Prüfung grundsätzlich zurückgewiesen wurden. Die Massenentlassungen bei dem Konzern nach Elon Musks Einstieg legen überdies die Vermutung nahe, dass Twitter überhaupt nicht mehr über das Personal verfügt, dass selbst für eine Algorithmus-gesteuerte Moderation notwendig wäre.

Warum wird ausgerechnet ein Antisemitismusbeauftragter als Antisemit beschimpft?

Der Vorwurf geht auf das Simon-Wiesenthal-Center (SWC) in Los Angeles zurück, das Blume im vergangenen Jahr auf Platz sieben seiner Antisemitenliste einsortierte. Das SWC, nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Institut in Wien, steht seit einiger Zeit unter verstärktem Einfluss von rechten Aktivisten – unter anderen des israelischen Journalisten, um dessen Tweets es nun in Frankfurt ging. Demnach sind es vor allem Ultranationalisten, die selbst den Zentralrat der Juden in Deutschland als antisemitisch einstufen. Ein Sprecher der jüdischen Gemeinden in Württemberg, auf deren Vorschlag Blume 2017 berufen wurde, begrüßte das Urteil aus Frankfurt. „Wir haben uns große Sorgen gemacht, dass er wegen der Schmähungen irgendwann alles hinschmeißt.“

Bedeutet das Urteil eine Einschränkung der Meinungsfreiheit?

Das ist tatsächlich eine weitverbreitete Kritik, die vor allem aus libertären und rechtsgerichteten Kreisen an dem Urteil vorgebracht wird. Und auch Elon Musk dürfte dieser Meinung sei. Er hatte die Wiederzulassung gesperrter Accounts ja gerade mit der Meinungsfreiheit begründet. Allerdings sind Meinungsäußerungen auch künftig zulässig, selbst wenn sie pointiert sind. Wichtig ist aber: Es braucht einen Zusammenhang, wenn man jemanden einen Nazi oder Antisemiten nennt.

Und wenn sich Twitter einfach nicht an das Urteil hält?

Tatsächlich ist das Frankfurter Urteil noch nicht rechtskräftig. Es ist davon auszugehen, dass Twitter die nächste Instanz anruft. Sollte sie das Urteil bestätigen, kann es allerdings ungemütlich werden. Dann ist es relativ einfach möglich, Ordnungsgelder und sogar eine Ordnungshaft gegen Manager des Unternehmens zu veranlassen. Auch prüft Blume Schmerzensgeldforderungen. Das Geld, so kündigte er an, werde er an Hate Aid spenden, eine Organisation, die Hatespeech-Opfer im Internet unterstützt und auch Blumes Rechtsstreit gegen Twitter vorfinanzierte.

Können sich auch andere, die sich auf Twitter beschimpft fühlen, auf das Urteil berufen?

Zunächst gilt das Frankfurter Urteil nur für den dort verhandelten Fall. Allerdings können sich künftige Kläger durchaus auf die dort geleisteten Vorarbeiten stützen, zumal es sich zwar in gewisser Hinsicht um Neuland, aber doch um eine „logische Fortsetzung der Rechtssprechung handelt“, wie Anwalt Jun betonte. Ein solcher Prozess gegen den scheinbar übermächtigen Twitter-Konzern werde damit für praktisch jede Anwaltskanzlei mit einem dann deutlich geringeren Aufwand führbar.

Was macht Elon Musk jetzt?

Ob der neue Chef des Kurznachrichtendienstes von dem Frankfurter Urteil schon erfahren hat, ist unklar. Einerseits kümmert er sich um vieles gerne selbst, andererseits sind wichtige Kanäle durch die Entlassungen der vergangenen Monate verloren gegangen. Auf seinem eigenen Account erregt er gegenwärtig selbst mit Verschwörungserzählungen Aufsehen. In den USA bewegt sich das Netzwerk deutlich nach rechts, wie eine Aufstellung der „Washington Post“ ergeben hat. Demnach haben seit Musks Übernahme Rechtsaußen-Republikaner zahlreiche Follower gewonnen. Bei den Demokraten ging die Gefolgschaft hingegen in gleichem Maße zurück.

Kann Musk nicht einfach das deutsche Twitter abschalten?

Dass sich der angeblich reichste Mann der Welt mit dieser Möglichkeit grundsätzlich schon befasst hat, lässt sich aus einem Tweet schließen, den er vor Kurzem absetzte. Twitter halte sich an die Gesetze des jeweiligen Landes, oder es gehe weg, hatte er dort ganz richtig geschrieben. Tatsächlich blieb der Standort Deutschland von den jüngsten Entlassungen nicht unberührt. So wurde offenbar auch die in Hamburg angesiedelte Presseabteilung aufgelöst. Der bisherige Leiter der Abteilung soll laut Medienberichten vor dem Arbeitsgericht gegen seine Entlassung klagen. Eine Anfrage unserer Zeitung zu dem Frankfurter Rechtsstreit wurde von Twitter womöglich auch deshalb bisher nicht beantwortet. Andererseits ließ sich das Unternehmen vor dem Frankfurter Landgericht von einer renommierten Großkanzlei vertreten, was durchaus als ein gewisses Interesse am Standort zu werten ist, auch wenn die Kanzlei beim mündlichen Termin keine gültige Vollmacht vorlegen konnte.

Wie wichtig ist Deutschland überhaupt für Twitter?

Die Zahl der Twitter-Nutzer in Deutschland belief sich zuletzt auf 7,75 Millionen, weltweit bedeutet das Platz 15. Bei 237 Millionen Nutzern auf der ganzen Welt ist Twitter in Deutschland damit eher unpopulär, für das Unternehmen fraglos aber ein wichtiger Markt. Und: Grundsätzlich beruht die deutsche Rechtssprechung auf europäischem Recht. Anwalt Jun ist sich jedenfalls sicher, dass ähnliche Prozesse auch in anderen Ländern der EU demnächst geführt werden könnten – mit ähnlichem Ausgang. Das könnte für Musks 44-Milliarden-Investment dann aber zum Problem werden. Ob die Banken mit einem Rückzug aus Deutschland und möglicherweise ganz Europa einverstanden sind, darf bezweifelt werden.