Mit riesigen Kränen wird das beim Brand geschmolzene Gerüst in Einzelteilen von der Kathedrale Notre-Dame geholt. Arbeiter haben die insgesamt 40 000 Eisenstangen vorher zersägt. Foto: AFP/BERTRAND GUAY

An der von einem Brand schwer beschädigten Pariser Kathedrale hat die Absicherung des einsturzgefährdeten Gewölbes begonnen. Eine gefährliche Arbeit in schwindelnder Höhe. Wie sieht es vor Ort aus?

Paris - Wie winzige Ameisen wirken die Männer an der riesigen Außenmauer von Notre-Dame. In 40 Meter Höhe schrauben und sägen die Arbeiter, geben mit weit ausholenden Armbewegungen dem Kranführer hoch über ihnen Zeichen, wohin er den Ausleger seines Gefährtes genau steuern soll. Auf der anderen Seite der Seine bleiben immer wieder Schaulustige stehen und beobachten fasziniert das Treiben. „Mich würden keine zehn Pferde da hochbringen“, murmelt eine Frau, während ihr Begleiter versucht, mit einem Teleobjektiv den Kranführer zu fotografieren, der in seiner Kabine rund 80 Meter über dem Geschehen thront. „Aber einen schönen Blick über die Stadt hat er,“ sagt sie nach kurzem Überlegen.

Wie durch ein Wunder steht Notre-Dame noch

Am Abend des 15. April wütete vor einem Jahr ein verheerender Band in der Pariser Kathedrale Notre-Dame, und es erscheint wie ein Wunder, dass das 850 Jahre alte Bauwerk im Herzen der Stadt überhaupt noch steht. Der legendäre Dachstuhl aus tausenden von Eichenbalken wurde ein Raub der Flammen, die verkohlten Reste stürzten in den Innenraum der Kirche und  rissen den 96 Meter hohen Spitzturm mit in die Tiefe. Ein Gerüst, das vor dem Feuer für Restaurierungsarbeiten am Dach angebracht worden war, überstand das Inferno – und ist nun eines der großen Probleme beim Wiederaufbau der Kathedrale. Allerdings scheint die geschmolzene Konstruktion Fluch und Segen zugleich.

Das rund 200 Tonnen schwere Gewirr aus 40 000 Eisenstangen ist in der Hitze von 1000 Grad regelrecht zusammengebacken. Fachleute vermuten, dass die Konstruktion aus verbogenen Rohren in jener Nacht des Infernos die Außenmauern womöglich vor dem Einsturz bewahrt haben könnte. Auf der anderen Seite warnte Philippe Villeneuve, der Chefarchitekt für den Wiederaufbau, zuletzt immer wieder, dass das schiere Gewicht des Gerüstes das Gewölbe zum Einsturz bringen könnte.

Ein Rettung mit vielen Schwierigkeiten

Erste Versuche, die verbogenen Konstruktion nach dem Brand zu demontieren, wurden aber abgebrochen, die Gefahr schien zu groß, dass die Kathedrale in sich zusammenfällt. Nun wird nach Monaten der Vorbereitung ein neuer Anlauf genommen. Dazu wurde das alte Gerüst befestigt und auf drei Ebenen mit Metallträgern stabilisiert. Gleichzeitig wurde ein zweites Gerüst erstellt, um die Abbauarbeiten zu ermöglichen. Zwei Teams aus jeweils fünf Industriekletterern haben sich an die Arbeit gemacht, die Metallrohre zu zersägen – eine äußerst filigrane Aufgabe von gigantischem Ausmaß.

„Wenn alles beendet ist, werden wir sehr erleichtert sein“, sagte der Generalbevollmächtigte der Notre-Dame-Stiftung, Christophe Rousselot. Er hofft, dass es im Laufe der Arbeiten zu keinen Zwischenfällen kommt. „Es könnten auch Stücke aus dem Gerüst herausfallen und einen Teil der Mauern der Kathedrale beschädigen.“ Immer wieder mahnen die Verantwortlichen zur Geduld. Keiner ist glücklich über die Aussage von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, der noch in der Nacht der Katastrophe einen Wiederaufbau der Kathedrale binnen fünf Jahren versprochen hatte.

Der Präsident macht Druck auf die Arbeiter

„Wir machen einen kleinen Schritt nach dem anderen“, erklärte Ex-General Jean-Louis Georgelin, der Beauftragte der französischen Regierung für den Wiederaufbau von Notre-Dame, als an Pfingsten der Vorplatz der Kathedrale wieder für die Öffentlichkeit geöffnet wurde. Das Gelände war abgesperrt worden, weil rund um das Gebäude eine zu hohe Belastung durch Giftstoffe gemessen worden war.

Die Verantwortlichen stehen nicht nur vor einer gewaltigen Aufgabe, sondern auch vor immer neuen, bisweilen unerwarteten Problemen. Zuletzt mussten die Bauarbeiten über Wochen wegen der Corona-Krise eingestellt werden, was den Zeitplan weiter verzögert hat. Mit dem eigentlichen Wiederaufbau soll neuesten Aussagen zufolge im kommenden Jahr begonnen werden. Dann muss auch geklärt werden, wie das Dach der Kathedrale am Ende aussehen soll. Hier stehen sich die Lager der Traditionalisten und der Erneuerer entgegen. Präsident Macron wünscht sich eine moderne Interpretation der ursprünglichen Form. Bei einem ersten Ideenwettbewerb wurden unter anderem ein Dach aus Glas vorgeschlagen oder ein Turm in der Gestalt einer Flamme. Eine Umfrage hat jedoch ergeben, dass die meisten Franzosen im Fall der Kathedrale, die auf gewissen Weise auch die Seele der Nation verkörpert, keine Experimente wollen. Notre-Dame soll nach dem Wiederaufbau so aussehen, wie vor dem Brand.