Ulrich Hafner. Foto: Reiner Pfisterer (z)

Der hauptamtliche Kirchenmusiker Ulrich Hafner erklärt, wie schwierig es während der Corona-Pandemie ist, zu arbeiten.

Bad Cannstatt - Die Pandemie schränkt sehr viel Kulturleben ein. Auch in der Musik, wie das Beispiel des katholischen Kirchenmusiker Ulrich Hafner zeigt. Er erklärt die Schwierigkeiten, die die Pandemie für die Kirchenmusik in Bad Cannstatt mit sich bringt und wie Sänger, Musiker und Chöre in dieser Zeit leiden.

Herr Hafner, seit knapp einem Jahr müssen Sie als Kirchenmusiker in Zeiten der Corona-Pandemie arbeiten. Was hat sich für Sie als hauptamtlichen Kirchenmusiker geändert?

Sofort bei Ausbruch der Pandemie musste ich alle Chorproben absagen, auch die geplanten Auftritte meiner Chöre in den Gottesdiensten. Erst nach den Sommerferien konnten wir wieder proben. Schon ab November durften wir nur noch mit kleinen Ensembles in Gottesdiensten auf der Orgel-Empore auftreten.

Wie hat sich Ihre Arbeit geändert?

Normalerweise plane ich langfristig, engagiere Chöre, Solisten und Musiker für Konzerte und Auftritte in Bad Cannstatt. Das geht jetzt nicht mehr. Die Situation ist nicht mehr planbar. Vieles kann ich durch das Orgelspiel ersetzen, doch ist das nicht dasselbe. Vor allem nicht für die Kirchenbesucher, die ein reichhaltiges kirchenmusikalisches Programm gewohnt sind. Denn Liebfrauen ist eines der drei kirchenmusikalischen Zentren Stuttgarts, da erwartet das Publikum zu Recht Kirchenmusik auf hohem Niveau. Am schlimmsten aber ist für mich der fehlende persönliche Kontakt zu Sängern und Musikern. Denn das eigentliche Herzstück meiner Arbeit als Kirchenmusiker ist die Arbeit mit ihnen, die Proben und die Auftritte. Fast alle Konzerte und Auftritte musste ich absagen oder verschieben. Auch meine Sänger muss ich vertrösten: Es gibt keine Perspektive für ein ‚normales’ Singen.

Wie mussten Sie Ihr Programm umstellen? Welche Alternativen können Sie bieten?

Seit November sind alle Konzerte ausgefallen. Bis auf den Einsatz kleiner Sängergruppen im Gottesdienst versuche ich, die musikalische Auszeit mit viel Orgelmusik zur füllen. Das ist nur ein schwacher Ersatz. Seit Mai 2020 spiele ich in Liebfrauen in jedem Samstags- und Sonntagsgottesdienst Orgelmessen. Dabei übernimmt die Orgel Teile der Messe. Ich möchte in diesen Messen der Gemeinde über meine Musik etwas Anspruchsvolles bieten und der Messe musikalisch einen roten Faden geben. Diese Tradition der Orgelmessen gibt es in Frankreich bis heute. Hier zeigt sich vielleicht der einzige Vorteil in der Pandemie-Zeit: Die Orgel erhält einen herausragenden Stellenwert. Mit ihrem schier unerschöpflichen Klangreichtum kann sie dem Wunder der Schöpfung gerecht werden, das göttliche Geheimnis nachempfinden und die Herzen emporheben.

Gibt es „Ausweichmöglichkeiten“ – beispielsweise Online-Proben per Computer?

Leider nein. Proben am Computer sind für Laienchöre überhaupt nicht praktikabel.

Wie können Sie in dieser Situation Sänger und Musiker motivieren oder vertrösten?

Kaum. Zumindest ist es extrem schwierig, da die musikalische Zwangspause nun schon seit Monaten andauert. Was wir - die Sprecher und Vorstände der Chöre und ich als musikalischer Leiter - auf jeden Fall tun: Kontakt zu den Sängerinnen und Sängern halten. Bei Chorisma Cannstatt hatten wir eine schöne Online-Adventsfeier, der Kirchenchor Liebfrauen beging seine Cäcilienfeier im Rahmen eines Vorabendgottesdienstes, bei dem der Chor im Mittelpunkt stand.

Wie oft treffen sich Chöre und Musiker normalerweise?

Vor der Corona-Pandemie gab es jede Woche eine Chorprobe. Dazu kamen rund 20 Auftritte der Chöre in Gottesdiensten und Konzerten, außerdem Probentage und Probenwochenenden.

Wie haben die rund 100 Chorsängerinnen und -sänger der katholischen Chöre aus Bad Cannstatt reagiert?

Sie waren und sind traurig, dass sie nicht mehr singen dürfen. Auch fehlt ihnen das Gefühl der Gemeinschaft, das ein Chor immer vermittelt, der soziale Kontakt zu den anderen Sängerinnen und Sängern. Als das Singen im vergangenen Sommer noch erlaubt war, empfanden viele die Proben wegen der strengen Auflagen als schwierig und anstrengend. Aber sie freuten sich über das gemeinsame Singen, das Wiedersehen mit anderen und das Gefühl der Gemeinschaft im Chor.

Was bedeutet der Lockdown für die Musiker, die von ihrer Arbeit leben müssen?

Für Musiker ohne Festanstellung ist die Zeit der Pandemie eine Katastrophe. Ohne Engagements müssen sie ihr Erspartes aufbrauchen. Danach bleibt ihnen nur der Gang zur Arbeitsagentur. Wo es möglich ist, gebe ich ihnen kleine Engagements im Rahmen unserer Kirchenmusik, damit sie sich etwas hinzuverdienen können.

Welche Möglichkeiten im Leben der Kirchengemeinde bleiben noch, Musik zu spielen?

Momentan sind nur Orgelmessen möglich und vereinzelte Auftritte von Solisten. Frauen und Männer treten im Wechsel als Schola auf, maximal zu viert. Manchmal gibt es Kantorengesang im Gottesdienst.

Hat der Lockdown Auswirkungen auf das spirituelle Leben der Kirchengemeinden in Bad Cannstatt?

Ja. Sicht- und hörbar ist das in den Gottesdiensten. Es gibt viel weniger Gläubige, die sich in der Kirche versammeln. Es fehlen die regelmäßigen Treffen der Gruppen im Gemeindehaus, die spirituellen Begegnungen. Jeder ist jetzt mehr oder weniger auf sich gestellt, auch Musiker und Sänger.

Gibt es bei Ihnen Überlegungen, während des Lockdowns alle Angebote im Kirchenraum zu streichen, um im Sinne von „möglichst wenig Kontakte“ Menschen vor Corona zu schützen?

Ja. Vor allem in den Gottesdiensten. Sonderregeln erlauben immer noch Singen und Musizieren mit Abstand und Begrenzung der Musikerzahl. Das führt zwangsläufig zu Spannungen: Einerseits sollen Kontakte vermieden werden, andererseits dürfen noch Sänger und Musiker im Gottesdienst mitwirken. Deshalb habe ich in der Advents- und Weihnachtszeit nur mit einem Minimum an Aktiven geplant. Rückwirkend gesehen war das die absolut richtige Entscheidung. Das haben mir auch die Musiker bestätigt, denen ich im Vorfeld absagen musste. Bedauerlich war nur, dass die Kirchenleitung nicht von sich aus mehr auf ‚safety first’ gesetzt hat, um die allgemeinen Kontaktbeschränkungen zu unterstützen.

Gibt es bereits jetzt eine Perspektive für die Nach-Corona-Zeit?

Nein, das ist noch nicht absehbar. Nur so viel ist klar: Die Pandemie wird alle Engagierten in der Kirchenmusik noch lange beschäftigen. Die Zahl der Infizierten und der Toten sinkt noch nicht trotz der Corona-Maßnahmen. Daher wird sich die Situation meiner Ansicht nach mindestens bis zu den Sommerferien kaum ändern. Ich wäre sehr froh, wenn ab Oktober wieder ein einigermaßen normaler musikalischer Proben- und Konzertablauf möglich wäre.

Wird die Pandemie auch langfristig Auswirkungen auf die Kirchenmusik haben?

Ja, mit Sicherheit. Viele Sänger werden nicht mehr kommen, da sie in der Zeit der Pandemie eine andere Betätigung für sich gefunden haben. Für kleinere Chöre mit älteren Mitgliedern kann es schnell das Ende bedeuten; hier ist fraglich, ob sie noch einmal einen Anlauf wagen. Die größeren Chöre der Kirchengemeinden müssen sich auf finanzielle Einbußen einstellen. Der Rückgang der Kirchensteuereinnahmen wird auch sie treffen und die Kirchenmusik insgesamt. Einsparungen bedeuten für alle ein „Weniger“. Insgesamt befürchte ich, dass sich während und nach der Pandemie etliche Menschen von der Kirche abwenden und austreten. Das werden wir auch bei den Chören merken. Es wird schwerer, Nachwuchs zu finden, da die Bindung zur Kirche und zum religiösen Gesang verloren geht. Allerdings kann es einen positiven Aspekt geben: Chöre, die immer eine gute Gemeinschaft gepflegt haben, auf hohem Niveau sangen und erfolgreich waren, erleben zurzeit schmerzhaft das Fehlen des Gesangs. Sie werden mit mehr Engagement, Freude und Eifer an den Neuanfang gehen.

Das Fragen stellte Iris Frey.