Baustellenbesichtigung (von links): Architekt Aaron Werbick, Stadtdekan Søren Schwesig, Kirchengemeinderat Christian Schwinge und Pfarrerin Birgit Rommel Foto: Lichtgut/Julian Rettig

Die Martinskirche der Stuttgarter Nordgemeinde wird für 6,2 Millionen Euro umgebaut. Dahinter steckt ein Konzept, das für andere Stadtteile wegweisend sein könnte.

Stuttgart - Kirche ist mehr als ein Bauwerk. Kirche ist im Wortsinn Ekklesia – eine geistliche Gemeinschaft. Und wenn aus beidem, dem sakralen Bau und den dazugehörenden Menschen, ein organisches Gebilde entsteht, ist fast so etwas wie ein Idealzustand erreicht. Und genau daran arbeiten derzeit fleißige Handwerker im Stuttgarter Norden in der evangelischen Martinskirche.

Ihr Auftrag lautet fast so epochal wie die Inschrift der Kuppel im Petersdom zu Rom: Baut auf diesen Steinen die Kirche der Zukunft! Dafür hat der Kirchenkreis 6,2 Millionen Euro lockergemacht. Weitere 270 000 Euro fließen in eine neue Orgel. „Das ist mit Abstand das größte Bauprojekt des Kirchenkreises und eine singuläre Investition“, sagt Stadtdekan Søren Schwesig. Aber er ist sich sicher, dass jeder Cent gut angelegt ist. Denn so einzigartig wie der Millionenbetrag, so einzigartig soll auch das Konzept dieser Kirche sein.

Ein Ort im Wandel

Damit löst Schwesig freilich Verwunderung aus. Denn zuletzt war die Martinskirche, zwischen Pragfriedhof und jüdischem Friedhof gelegen, Sinnbild einer Kirche im Abschwung. Sonntags konnte man die Gottesdienstbesucher an der Nordbahnhofstraße teils an zwei Händen abzählen, dann stand die Kirche drei Jahre leer. „Keiner wusste so recht, was aus der Martinskirche werden soll“, erinnert sich Nord-Kirchengemeinderatsvorsitzender Christian Schwinge. Doch nach langen Diskussionen sei klar geworden: „Hier muss man Kirche groß denken.“

Was das bedeutet, erklärt Architekt Aaron Werbick vom Studio Prinzmetal: „Wir konzipierten etwas, was dieser Ort benötigt.“ Ein Ort, der sich im Wandel befindet. Denn im angrenzenden Rostensteinviertel werden rund 20 000 Bürger neu hinzuziehen. Etwa 20 Prozent davon werden als Protestanten identifiziert. Alleine das könnte als Argument für die hohe Summe ausreichen. Aber die Nordgemeinde zeichnet sich seit Jahren auch durch eine starke Spezialisierung aus. Hier ist nicht nur die auf junge Erwachsene zielende Kesselkirche (ehemals Jesustreff) beheimatet, sondern auch die Stuttgarter Jugendkirche nebst den klassischen Gemeindemitgliedern. Es wird also eine Mischung aus bekanntem Gemeindeleben, Jugendkirche, Milieukirche und Veranstaltungsort entstehen. „Obwohl sich Räume zuschalten oder entkoppeln lassen, wird es keine Mehrzweckhalle“, sagt Architekt Werbick, „der Raum ist wandelbar, bleibt aber sakral.“ Damit könnte die Kesselkirche sonntags ihre bis zu 400 Besucher begrüßen, und gleichzeitig könnten andere Formate stattfinden.

Diakonisches Herz des Stadtteils

Was beim Bau der Martinskirche 1936/37 nur als sakraler Raum mit Sondernutzung (Luftschutzbunker) gedacht war, soll nun das geistliche und diakonische Herz des Nordens werden. Denn dort, wo immer noch die denkmalgeschützten Reste des Bunkers zu sehen sind, dort wird sich die Martinskirche in einem weiten Portal in den Stadtteil hinein öffnen. Hier entsteht der offene Zugang zur Kirche und zu dem Bistro-Café, dem Gemeindebüro, Kesseltreff-Büro und einem Secondhand-Shop für Kinderkleider. „Über dieses Bistro als Anlaufstelle soll sich unsere diakonische Arbeit ausbreiten“, sagt Schwesig. Schwinge ergänzt: „Hier will sich Kirche zeigen und Anknüpfungspunkte suchen.“ Natürlich sei der Zugang barrierefrei, betonen beide mit Hintersinn: Die Kirche von morgen soll in ihren Angeboten niederschwellig und leicht für jeden erreichbar sein.

Gute Technik und große Küche

Trotz der hohen Investitionssumme hat es laut Søren Schwesig keine negativen Stimmen gegen den Umbau im Kirchenkreis gegeben. Offenbar leuchten jedem die Sinnhaftigkeit und der wegweisende Charakter des Zukunftsprojektes ein. Beim Stichwort Zukunft kommt Schwinge auch auf die Technikausstattung der neuen Martinskirche zu sprechen: „Wir haben mehrere Hunderttausend alleine in Beamer, eine moderne Licht- und Übertragungstechnik und so weiter gesteckt. So können wir auch ein professionelles Livestreaming der Veranstaltungen anbieten.“ Auch für große Präsenzveranstaltungen sei gesorgt: „Wir haben eine Küche, die 200 Leute versorgen kann.“ Dies dürfte vor allem für die Kesselkirche ein Argument sein, die derzeit im Wizemann gastiert, aber zum Erntedankfest 2022 in die alte neue Heimat zurückkehren soll. Darauf freut sich auch Birgit Rommel, die Pfarrerin der Martinskirche: „Wir bauen hier eine Verbindung zwischen Tradition und Neuem.“

Historie
 1937 wurde das Gotteshaus in der Eckartstraße eingeweiht. Architektonisch besonders war die flexible Gestaltung: Ein quer zum Hauptschiff angeordneter Anbausaal war sowohl als Teil der Kirche als auch als abtrennbarer Saal nutzbar. Der Architekt Karl Gonsner hat die Kirche für 1000 Sitzplätze konzipiert. 1944 wurde das Gotteshaus im Krieg fast vollständig bei einem Brand zerstört und bis 1950 wiederaufgebaut. Der Innenraum der Kirche ist noch heute stark geprägt von einem mächtigen Kruzifix, das der Stuttgarter Bildhauer Jakob Brüllmann aus einer 400 Jahre alten Eiche gestaltet hat.