Die Küstenwache bringt Flüchtlinge an Land, die aus einem Schlauchboot gerettet wurden. Foto: dpa/Gareth Fuller

Zwischen London und Paris bricht ein neuerlicher Streit aus – nicht um Fischereirechte sondern um Migranten. Immer mehr von ihnen versuchen, den Ärmelkanal zu überqueren. Und immer mehr verlieren bei diesen Versuchen ihr Leben.

London/Paris - Den französischen Polizisten bot sich am Donnerstagmorgen ein desolates Bild, als sie in Wissant nahe Calais ein mit Wasser gefülltes Schlauchboot entdeckten. Daneben saßen zwei völlig unterkühlte Männer im nassen Sand. Neben ihnen ein Dritter – tot.

Die französische Marine, die Küstenwache und die Seenotrettung hatten in der Nacht zuvor mit Hubschraubern und Schiffen fast 300 Migranten in Lebensgefahr aufgegriffen. Sie hatten trotz tückischer Strömungen versucht, in behelfsmäßigen Booten die mindestens 28 Kilometer breite Meerenge zu überqueren. Oft kentern oder sinken die Gummiboote. Das hat diese Woche zu einem zweiten Todesfall geführt. Ein dritter Migrant gilt als verschollen. Ein Eritreer wurde außerdem am Donnerstag außerhalb von Calais von einem Regionalzug erfasst und getötet.

Mehrere tausend Migranten warten im Hinterland

Im Hinterland von Calais warten derzeit mehrere tausend Migranten auf die nächtliche Kanalüberquerung. 2016 hatte die französische Polizei ein wildes Lager mit nahezu 10 000 Migranten, den so genannten „Dschungel“, geräumt. Jetzt steigen die Zahlen wieder stark an. Seit Jahresbeginn haben laut französischen Quellen 20 000 Migranten die britische Kanalküste erreicht.

Die neue Situation in Calais erklärt sich mit den zunehmenden Spannungen in Afrika und dem Mittleren Osten, aber auch dem Brexit: Die britische Regierung strafft seither die Kontrollen auf den Kanalfähren und im Zug durch den Eurotunnel. Die gefährliche Überfahrt in den „small boats“ – so der Jargon – bleibt die einzige Möglichkeit, um ins vermeintlich gelobte England zu gelangen.

Briten und Franzosen schieben sich die Schuld zu

Briten und Franzosen schieben sich die Schuld an der dramatischen Lage gegenseitig zu. London wirft Paris vor, es missachte das bilaterale, noch vor dem Brexit geschlossene Abkommen von Le Touquet, laut dem die Franzosen die Überfahrt von Migranten schon an der Küste verhindern sollen; London liefert dafür kilometerlange Metallgitter und beteiligt sich finanziell an der Küstenüberwachung. Der französische Innenminister Gérald Darmanin wirft den Briten dagegen seit Wochen vor, sie kämen ihren Verpflichtungen nicht nach.

Der britisch-französische Migrationskonflikt geht noch tiefer als der jüngste, ungelöste Fischereistreit im westlichen Teil des Ärmelkanals. Die britische Regierung hegt den Verdacht, die Franzosen ließen bewusst möglichst viele Migranten über den Kanal, um sich für den Brexit zu rächen und dessen angeblich negative Konsequenzen aufzuzeigen. Das Londoner Newsportal Politico zitierte dieser Tage aus einem Brief des französischen Premiers Jean Castex, der die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen aufforderte, „zu zeigen, dass es schädlicher ist, die EU zu verlassen, als darin zu bleiben“.

300 bis 400 Kilometer Küste sind zu überwachen

Der französische Abgeordnete Pierre-Henri Dumont hält auf der BBC dagegen: „Wir müssen Tag und Nacht 300 bis 400 Kilometer Küste überwachen und können nicht alle 100 Meter einen Gendarmen hinstellen. Erschwerend kommt dazu, dass die beiden Hauptprotagonisten in ihrer Heimat unter massivem innenpolitischen Druck stehen – Boris Johnson, weil der Migrationsdruck am Kanal trotz verschärftem Einwanderungsrecht noch zugenommen hat; und Emmanuel Macron, weil er vor den anstehenden Präsidentschaftswahlen ohnehin auch innenpolitisch attackiert wird, er unternehme nichts gegen die Migranten in Calais und für die Fischer in der Normandie, lautet der Vorwurf. „Überhaupt“, ätzte der Rechtsaußen und unerklärte Präsidentschaftskandidat Eric Zemmour, „hat England die Brexit-Schlacht gewonnen“.

Macron wirft Johnson Vertragsbruch vor

Macron warf Johnson in der Financial Times sehr direkt vor, er halte sich nicht an die Verträge und lasse es an „Glaubwürdigkeit“ mangeln. Die Regionalzeitung L’Est Républicain kommentierte sogar, die Briten seien „unsere besten Feinde“, nachdem sie Frankreich schon in der U-Boot-Krise hintergangen hätten.

Der ehemalige Botschafter in Paris, Sir Peter Ricketts, erklärte diese Woche, es sei „bestürzend“ zu sehen, wie sehr sich die Beziehungen zwischen Frankreich und dem Königreich verschlechtert hätten. „Johnson, Macron, stoppt das Feuer!“, appellierte Ricketts an beide Seiten.

Um die Migranten abzuhalten und „die Kontrolle über die Grenzen zurückzuerlangen“, wie es Boris Johnson sagte, haben die Briten weniger Möglichkeiten. Innenministerin Priti Patel prüfte die „Turn away“-Taktik, mit der die Migrantenboote durch britische Schiffe abgedrängt werden sollen; doch wie ihr französischer Widerpart Darmanin erklärte, würde dies internationales Seerecht verletzen.

Macron selbst plädiert für eine Revision des europäischen Asylrechts, damit die Migranten schon beim EU-Eintritt geprüft werden können und gar nicht erst nach Calais gelangen. Politisch scheint dies aber ebenso wenig machbar wie das britische „Turn away“. So rasch wird sich die Lage am Ärmelkanal nicht entspannen.