Marcel Reich-Ranickis liebte dasgedruckte Wort – und hatte seinen größten Erfolg im Fernsehen. Foto: dpa/ Jörg Carstensen

Marcel Reich-Ranicki war der bekannteste Literaturkritiker seiner Zeit – und ein TV-Star. Seine Stimme ist vielen noch im Ohr, obwohl längst verklungen. Am 2. Juni würde er 100 Jahre alt.

Stuttgart - Marcel Reich-Ranicki glaubte „an Shakespeare, an Mozart, an Beethoven, an Goethe“, aber nicht an Gott. Seine ganze Liebe galt der deutschen Literatur; für sie lebte und stritt er mit Leidenschaft. Aber der Literaturkritiker hat auch als Zeitzeuge des Holocaust immer wieder auf versteckten oder gar offenen Antisemitismus hingewiesen.

Geboren wurde er vor beinahe 100 Jahren, am 2. Juni 1920, in Wloclawek, einer polnischen Kleinstadt an der Weichsel. Sein Vater David war polnischer Jude, seine Mutter Helene eine deutsche Jüdin. Sie führte ihn früh ans Lesen heran und sorgte später dafür, dass ihr Sohn in Berlin bei Verwandten untergebracht wurde, wo er die Schule besuchte. „Kindheitserinnerungen sind meist langweilig in der Literatur. Deswegen sind auch in Autobiografien, die immer so früh anfangen, die ersten Kapitel meist die schwächsten“, sagte er im Sommer 1992. Das gilt nicht für seine Autobiografie (1999), wo er seine behütete Kindheit mit vielen Büchern beschreibt und dann seine Schulzeit in Berlin. Trotz Nationalsozialismus konnte er noch sein Abitur ablegen, aber ein Studium war nicht mehr möglich.

Vom Geheimdienst angeworben

Der Teil seiner Autobiografie, der von Rezensenten am meisten gelobt wurde und den Lesern am stärksten unter die Haut ging, war die Darstellung seines Lebens von der Deportation nach Polen 1938 über die Jahre im Warschauer Ghetto bis hin zur Flucht und dem Überleben im Untergrund. Im Warschauer Ghetto hat er seine Frau Teofila, genannt Tosia, kennengelernt und geheiratet. Die Angst davor, jeden Moment umgebracht zu werden, war ihr ständiger Begleiter. Nur die Musik konnte ihnen Trost geben.

Nach der Befreiung durch die Sowjetarmee wurde er vom polnischen Geheimdienst angeworben. In dieser Zeit änderte er seinen Namen zu Marceli Ranicki, weil Marceli Reich zu deutsch klang. Daraus wurde später nach seiner Übersiedlung in die Bundesrepublik (1958) Marcel Reich-Ranicki. In dem Land, aus dem er 20 Jahre zuvor deportiert wurde, hat er mit seiner Leidenschaft, der Literatur, eine erstaunliche Karriere gemacht. 2010 sollen ihn nach einer Umfrage 98 Prozent der Bevölkerung gekannt haben.

Aufstieg zum Literaturpapst

„Die Zeit“ stellte ihn zum 1. Januar 1960 als Literaturkritiker ein, wo er jedes Buch, das er vorschlug, auch rezensieren konnte und frei nach seinen Interessen schreiben durfte. Er brauchte nicht einmal in die Redaktion zu kommen, was ihm allerdings zum Schluss auch nicht mehr gefiel, da er sich ausgegrenzt fühlte. Also wechselte er 1973 zur „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ als Leiter des Literaturteils, wo er bis zu seinem altersbedingten Ausscheiden 1988 seine Stellung als Literaturpapst zementierte.

„Ich nörgele über die meisten Bücher, die gelesen werden. Ich kann nicht anders: Ich muss nörgeln“, sagte er einmal. Von seinen Rezensionen waren gerade die Verrisse besonders beliebt – so sehr, dass Reich-Ranicki sie in Buchform unter dem Titel „Lauter Verrisse“ mit großem Erfolg veröffentlichte.

Bekanntheit durchs Fernsehen

Nach seinem altersbedingten Ausscheiden bei der „FAZ“ fiel er beruflich die Treppe hoch. Am 25. März 1988 wurde die erste Folge des „Literarischen Quartetts“ im ZDF ausgestrahlt. Auch wenn in dieser Sendung nur über Bücher geredet wurde, sie sich also vermeintlich nur an ein schmales Publikum richtete, machte dieses Format MRR noch bekannter, als er ohnehin schon war. „Dieses ‚Literarische Quartett‘ ist keine Veranstaltung im Rahmen der Woche der Brüderlichkeit. Was schlecht ist, ist schlecht, und es muss gesagt werden“, hielt er 1991 fest.

Seine typischen Gesten waren der erhobene Zeigefinger oder sein rollendes R – keiner wurde damals häufiger parodiert. Spätestens seit dem „Literarischen Quartett“ gehörte er zu den bekanntesten Personen in der Bundesrepublik. Im August 1999 erschien seine Autobiografie „Mein Leben“; schon zwei Wochen später stand das Buch auf allen Bestsellerlisten im deutschsprachigen Raum auf Platz eins.

Seinen letzten öffentlichen Auftritt hatte er im Januar 2012, als er als Zeitzeuge der Judenvernichtung zum Holocaust-Gedenktag im Bundestag die Rede hielt. Er starb am 18. September 2013.