Glühbirnen statt Juristen, Angeklagten und Wachtmeister: Der Saal 2 der Zweigstelle des Stuttgarter Oberlandesgerichts in Stammheim in der Eignungsprüfung für Prozesse unter Pandemiebedingungen. Foto: pt/privat

In einem der größten Verfahren Deutschlands plagte die Richter des Stuttgarter Oberlandesgerichts vor allem eine Frage: Können sie den Mammutprozess unter Pandemiebedingungen überhaupt durchführen?

Stuttgart - Dieser Tag vor dem Stuttgarter Oberlandesgericht ist ungewöhnlich: Der Vorsitzende Richter des 5. Strafsenats erscheint in roter Hose, weißem Hemd, Weste und Sakko statt in schwarzer Robe. Zur Rechten von Herbert Anderer nimmt ein fast zwei Meter großer Schlacks mit Dreitagebart, dunkelgrauem Rolli und Brille Platz. Zu seiner Linken eine Frau mit Kurzhaarschnitt und modisch blauem Zweiteiler über der champagnerfarbenen Bluse. Ende Oktober beginnt der 38. Prozesstag gegen die mutmaßliche Rechtsterrorgruppe S. in Stuttgart-Stammheim anders als zuvor.

Nicht Mitschnitte von Telefongesprächen, psychiatrische Gutachten oder das Zeugnis von Polizisten stehen im Vordergrund, sondern Corona. Genauer: Wie die Stuttgarter OLG-Richter dem Virus den Kampf ansagen. „Wir haben einen harten, einen sehr harten Winter vor uns. Wenn sich ausreichend viele Menschen impfen lassen, werden wir ab dem Frühjahr wieder ein normaleres Leben führen können“, ist der Schlacks überzeugt. Wochen, bevor das Thema und erst recht Lösungen auf der politischen Agenda erscheinen, spricht Professor Stefan Ehehalt es an: mit der klaren und verbindlichen Sprache des Wissenschaftlers.

Seit fast zwei Jahren managt Ehehalt als Leiter des Gesundheitsamtes der baden-württembergischen Landeshauptstadt alles, was in der Region den Vormarsch des Virus eindämmen soll. Seit einem Jahr auch am Stuttgarter OLG. Zum dritten Mal sitzt er in den bisher 44 Verhandlungstagen seit April Seite an Seite mit Anderer auf der Richterbank, um über Covid-19 zu informieren, den Kampf dagegen zu erklären und sich den Fragen aller Prozessbeteiligten zu stellen.

Das Gericht ist kein Kaffeehaus

Um Hilfe wurde der preisgekrönte Pädiater und Facharzt für Öffentliches Gesundheitswesen gebeten, als der Generalbundesanwalt im vergangenen November die Anklage zu einem der größten deutschen Terrorverfahren einreichte und sich ein Prozess der Superlative abzeichnete: Zwölf Angeklagte, zunächst 26 Verteidiger, drei Anklägerinnen, sieben Richter, um die 50 Justizbedienstete. Hinzu Sachverständige, Zuschauer und zunächst unüberschaubar viele Zeugen. Derzeit das größte Gerichtsverfahren in Deutschland – unter Pandemiebedingungen. Er sei ja, sagt Anderer mit der ihm eigenen Süffisanz, „kein Kaffeehausbesitzer oder Theaterdirektor: Diesen Saal hier muss man betreten, ob man will oder nicht!“

Ohne klares und flexibles Hygienekonzept ein potenzielles Ereignis zur Superverbreitung des Virus. „Wir haben um Hilfe gerufen“, erinnert sich die Frau zur Linken Herbert Anderers: Doktor Katrin Dobler, als Präsidialrichterin der Strafabteilung nun plötzlich auch zuständig für die Organisation eines Verfahrens, für das es keine Blaupause gab. Für die Richter stellte sich die Frage, ob und wie sie so ein Mammutverfahren unter Pandemiebedingungen gewährleisten könnten. „Die zwölf Angeklagten nehmen ja nicht freiwillig an den Verhandlungen teil. Sie haben keine Wahl, weil der Staat zu Beginn des Prozesses elf von ihnen die Freiheit genommen hatte. Da kommt uns eine besondere Verantwortung auch für ihre Gesundheit zu“, beschreibt Dobler das Problem.

Ein Gericht in der Messe am Flughafen?

Und machte sich auf, zusammen mit Ehehalt, einer Vielzahl von Behörden und den Richtern des 5. Strafsenats nach Lösungen zu suchen. Sogar der Umbau einer Messehalle am Stuttgarter Flughafen zum Gerichtssaal wurde kurzzeitig in Erwägung gezogen, um sicherstellen zu können, dass alle am Prozess Beteiligten und Zuschauer genügend Abstand zueinander halten. „Drei Probleme standen zunächst im Vordergrund“, beschreibt Ehehalt: Wie können die bei der Atmung und beim Sprechen freigesetzten Aerosole als Überträger unschädlich gemacht werden? Wie kann verhindert werden, dass sich der Krankheitserreger über Speicheltröpfchen beim Reden verbreitet? Wie wird verhindert, dass die Menschen mit Kontakten zu Menschen außerhalb des Gerichtes, aber direkten Kontakten zu den Häftlingen – also vor allem Verteidiger und Wachtmeister – die Infektion auf die Angeklagten und somit in die jeweiligen Justizvollzugsanstalten übertragen?

Fündig wurden Präsidialrichterin Dobler und Arzt Ehehalt in der Stammheimer Zweigstelle des OLG. 2019 nach fünf Jahren Bauzeit und zu einem Preis von 29 Millionen Euro mit zwei Gerichtssälen fertiggestellt. „Bereits mit einer Lüftungsanlage versehen, die alle unsere Erwartungen übertraf“, sagt Dobler. Die durchgeführten Analysen ergaben, dass im Saal von einem geeigneten und zielführenden Luftwechsel in allen Aufenthaltsbereichen ausgegangen werden kann. Bei einer der Untersuchungen wurde dazu eine Gerichtsverhandlung mit 100 Watt-Glühbirnen simuliert. „Menschen geben Wärme ab. Diese hat wiederum einen Einfluss auf die Luftbewegung im Raum. Daher wurde jeder Platz, auf dem während des Prozesses jemand sitzt, mit einer Glühbirne versehen. Die Luftbewegung wurde durch farbigen Rauch, der in den Raum eingeleitet wurde, sichtbar gemacht. Dadurch konnten wir uns anschauen, wie die Lüftungsanlage arbeitet“, erklärt Ehehalt den einen Versuchsaufbau. Das Ergebnis: „Die Lüftungsanlage ist ideal geeignet!“ Zumal das in einer zusätzlich durchgeführten umfangreichen Computersimulation eines Dresdener Ingenieurbüros bestätigt wurde.

Beispiel für Kindergärten, Schulen und Universitäten

Dobler und Ehehalt machten sich an die Feinheiten des Prozessalltags: „Was ist für einen Verhandlungstag unverzichtbar – um die Antwort auf diese Frage mussten wir die Rahmenbedingungen bauen“, sagt Dobler: Masken sowie Plexiglasscheiben zwischen den Arbeitsplätzen der Verteidiger, Richtern und Anklägerinnen sollen die Infektion über Tröpfchen verhindern; die Wachtmeister wurden in Gruppen unterteilt: die, die Besucher kontrollieren, die, die Häftlinge bewachen, die, die Verfahren und Richter unterstützen. Alle voneinander getrennt. Hinter dem Gerichtssaal im nichtöffentlichen Bereich markieren schwarz-gelbe Pfeile auf dem Boden, in welche Richtungen gegangen werden darf, sind Gänge und Eingänge mit Plastikbändern abgesperrt.

Zwei strafraumgroße, weiße, beheizbare Zelte samt Kaffeemaschine sind eigens im Hof des Gerichts aufgebaut, in denen Anwälte und ein Teil der Wachtmeister ihre Pausen verbringen. Zusätzliche Toiletten. Dafür sind Garderoben nirgends im Gericht zu finden zu finden: „Da würde es zu Verdichtungen kommen – und damit das Infektionsrisiko gesteigert“, erklärt Ehehalt. Die insgesamt sehr große Zahl von Personen wird in verschiedene Untergruppen aufgeteilt und somit das Infektionsrisiko minimiert. Die Wegeführung ist so gewählt, dass keine Wege dieser Gruppen sich kreuzen. Schulungen für Richter und Wachtmeister. Vorrangige Termine für Tests im Stuttgarter Klinikum, das zeitweise auch mit mehreren Mitarbeitenden vor Ort testete. „Unsere Erfahrungen sind als Blaupause für andere geeignet, bei denen sich eine größere Anzahl von Menschen auf engerem Raum begegnet – wie dies zum Beispiel in Kindergärten, Schulen, Universitäten oder bei Veranstaltungen der Fall ist“, ist der Professor überzeugt.

Finger im Glas mit der Schokoladencreme

Seit April hat sich niemand im Gericht infiziert. Das wäre sicherlich auch in virtuellen Gerichtsverhandlungen möglich gewesen: Erklärungen über Teams, Zeugenbefragungen über Zoom – wie im Homeoffice. Dobler widerspricht: „Ich kann als Richterin niemanden verurteilen, dem ich nicht persönlich gegenübergestanden habe. Ich muss doch den Menschen in allen seinen Facetten erfassen, dem ich möglicherweise die Freiheit nehme.“ Das Grundgesetz, fügt sie leiser hinzu, „ist mit seinem Appell an die Würde des Menschen, ein unendlicher, ein großer Schatz. Wenn es um Freiheit geht, wird dem eine Videoübertragung nicht gerecht.“ Anderer sagte einmal im Verfahren: „Uns sind die Menschen wichtig, jeder einzelne hier in diesem Saal. Sie stehen im Vordergrund, weil der Rechtsstaat Sie in diese Lage gezwungen hat und zwingt.“

Folglich beschwor der Vorsitzende Richter am vergangenen Dienstag die Menschen im Gerichtssaal wieder, sich impfen zu lassen. Das sei nun einmal eines der wenigen Dinge im Leben, die ohne Alternative seien. Ein Freund habe ihm gerade erst ein Foto aus einem Restaurant geschickt: „Wer glaubt, dass die Impfung die DNA verändert, sollte das vielleicht als Chance begreifen“ , habe dagestanden. Und Anderer wäre nicht Anderer, wenn ihm bei so viel Doppeldeutigkeit und Ironie nicht der Schalk in den Augen gestanden hätte. Wie ein Zehnjähriger, der trotz eines Verbots erfolgreich seinen Zeigefinger in ein Glas mit Nutella versenkt hat - und ihn genüsslich abschleckt.