Gina Lückenkemper hat ihr Lachen wieder gefunden. Foto: IMAGO/Beautiful Sports/Axel Kohring

Zum vierten Mal unter der Schallmauer von elf Sekunden: Gina Lückenkemper und das Gefühl des Fliegens – ein Versprechen für den Sommer?

Sie rannte über die blaue Bahn des Olympiastadions, als würde sie schweben. Gina Lückenkemper vom SCC Berlin schien auf Wolke sieben in den Laufhimmel und ihre dritte deutsche Meisterschaft zu rennen. Die Strahlefrau der deutschen Leichtathletik kehrte mit dem herausragenden Ergebnis der Titelkämpfe eindrucksvoll zurück. 10,99 Sekunden zeigte die Uhr neben dem Ziel. Zum vierten Mal in ihrer Karriere war sie unter der magischen Elf-Sekunden-Grenze geblieben. Bei der WM 2017 in London sprintete sie in 10,95 Sekunden in die Weltklasse – und war zur deutschen Sprint-Königin geworden. Bei der EM 2018 in Berlin lief sie auf dem Weg zur Silbermedaille zweimal 10,98 Sekunden, ebenfalls im Olympiastadion. Lückenkemper wurde damals als „Geschenk des Himmels“ bezeichnet und als „Gina nationale“ gefeiert.

„Ich liebe dieses Stadion und die Stimmung“, gab sie am Samstag eine Liebeserklärung an das Olympiastadion und die blaue Bahn ab. Immerhin hatte sie mit ihren 10,99 Sekunden die zweitschnellste Zeit bei deutschen Meisterschaften abgeliefert. Nur Katrin Krabbe war 1991 schneller (10,91). Dem Jubel im Ziel folgten Freudentränen. „Es war halt alles so super und hat sich angefühlt wie Fliegen“, sprudelte es aus ihr heraus. Dann wurde sie nachdenklicher und sagte: „Ich habe wohl doch alles richtig gemacht.“

Ihr Blick ging über den Moment hinaus zurück auf die vergangenen zwei Jahre. Nach der EM 2018 war sie nach Florida in die USA gegangen zu Star-Coach Lance Brauman in eine Trainingsgruppe mit Olympiasiegern, Weltrekordlern und Weltmeistern. „Ich habe dort ein tolles Umfeld“, sagt sie begeistert und ist in ihrem Redefluss kaum aufzuhalten, fast wie die Spikes auf der Bahn. Knallhartes Training unter der Sonne Floridas („Da gehst du in jeder Einheit an die Leistungsgrenzen“) brachte zunächst nicht den erhofften Fortschritt. Verletzungen taten ein Übriges. Lückenkemper wurde kritisiert, musste einiges einstecken („Auf jemand, der am Boden ist, wird herumgetreten“), sie war mental angeschlagen. In der Hallensaison fand sie über die Leistungen wieder ihr inneres Gleichgewicht. Und über eine feine Technikveränderung.

Mit Hilfe von Biomechanikern hatte sie herausgefunden, dass ihr Start schneller wurde, wenn sie im Startblock das linke Bein und nicht das rechte vorne hat. Wo es um Hundertstel geht, ein Vorteil. Entscheidender aber war, wie sie ab der Hälfte der Strecke den Turbo einlegte und altbewährte Beschleunigungswerte offenbarte.

„Wir werden in diesem Sommer eine schnelle Gina erleben“, kam von Trainer Lance Brauman zuvor die Ankündigung. In Berlin folgte nun tatsächlich der erste Paukenschlag. Der amerikanische Star-Coach prophezeit aber noch mehr. „Gina wird bald Bestzeit laufen“, sagt der Mann aus Clermont. Schneller als 10,95 – das hält auch die Sprinterin selbst für möglich.

Was ist da also bei der WM in Eugene und der EM in München zu erwarten? „In Eugene werden wir den Fokus auf eine flotte 4x100-Meter-Staffel legen“, kündigt Lückenkemper an. Sie weiß um die schnellen Amerikanerinnen und Jamaikanerinnen und um die Schweizerin Mujinga Kambundji, die am Wochenende mit 10,89 Sekunden einen nationalen Rekord lief. Da ist eine vordere Platzierung für Lückenkemper selbst schlicht unmöglich.

Mit ihren 10,99 Sekunden hat sie sich in Europa aber auf Rang drei geschoben. Eine leise Medaillenhoffnung also für die Heim-EM in München im August. „Zuerst kommt Eugene“, wiegelt Lückenkemper noch ab. Sie ist spürbar gereift. Mit den schnellen Zeiten ist das Lachen zurückgekehrt und das Selbstbewusstsein, ohne das es im Kampf Frau gegen Frau nicht geht. „Ich habe das freie Laufgefühl genossen“, schwärmt sie über ihre neuen (alten) Wahrnehmungen.

Lückenkempers Freude teilte auch Rebekka Haase, Konkurrentin und Zweitplatzierte im Berliner Finale. „Gina hatte harte Jahre, sie hat sich zurückgekämpft, ich freue mich über ihre Riesenleistung“, erkannte die 29-Jährige vom Sprintteam Wetzlar, die mit 11,20 Sekunden ihre Saisonbestleistung einstellte, neidlos an. Harmonie als Grundlage für die Staffeln bei WM und Heim-EM?