Völlig losgelöst bejubelt der VfB-Profi Gonzalo Castro seinen späten siegtreffer gegen den Hamburger SV. Foto: Bauman

Der VfB Stuttgart hat im Spitzenspiel der zweiten Liga nicht nur den Hamburger SV besiegt, sondern auch die eigene Schwäche. Doch ist der Erfolg vor der Partie in Dresden auch ein Erweckungserlebnis im Aufstiegsrennen.

Stuttgart - Ausgerechnet Gonzalo Castro. Der Mittelfeldspieler also, der in seinen Aktionen oft gleichmütig, fast leidenschaftslos wirkt, verursachte diese Explosion an Emotionen, die an einem normalen Fußballabend die Mercedes-Benz-Arena zum Beben gebracht hätte. Doch in Corona-Zeiten vergaßen nur die wenigen im Stadion erlaubten Mitarbeiter des VfB Stuttgart in diesem Moment des Jubels jegliche Abstandsregeln.

„Für mich war es nicht möglich, die Abstandsregeln einzuhalten. Ich war im Instinktmodus“, sagt Pellegrino Matarazzo. Auch der Trainer war beim Last-Minute-Treffer vor Glück losgesprintet und hatte seine Spieler umarmt. Das mögliche Erweckungserlebnis für sein Team im Aufstiegsrennen der zweiten Liga stuft der 42-Jährige nun unter den „Top Drei“ seiner emotionalen Fußballhöhepunkte ein. Ein Leben lang werde ihn dieser Augenblick begleiten.

Wie oft lag der VfB schon 0:1 zurück?

Viel mehr ging ja nicht an Gefühlsausbrüchen, als der eingewechselte und zuletzt kritisierte Castro mit feinem Füßchen in der Nachspielzeit den Ball berührt und ihm die entscheidende Richtungsänderung gegeben hatte – 3:2 gegen den großen Aufstiegsrivalen aus dem hohen Norden. Castro, der stille Techniker, schrie Freude und Frust gleichermaßen hinaus und riss sich das Trikot vom Körper. Mit diesem fulminanten Abschluss einer denkwürdigen zweiten Hälfte stürzte gleich ein ganzer Berg an Steinen der Erleichterung ins Neckartal hinab. Denn der VfB besiegte nicht nur den HSV. Sondern vor allem seine eigenen Schwächen.

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Bereits 14-mal geriet die VfB-Mannschaft in dieser Saison mit 0:1 in Rückstand. Oft genug davon schon früh, und nur dreimal gelang es den Stuttgartern daraus noch einen Sieg (bei drei Unentschieden) zu machen. Weshalb sich ein Muster ergibt, das nach dem Trainerwechsel von Tim Walter zu Pellegrino Matarazzo bei aller Unterschiedlichkeit der Typen nicht durchbrochen wurde. Denn dass der VfB zu viele Torchancen vergibt, ist nur die halbe Wahrheit. Die andere Hälfte zeigt, dass er auch zu viele Gegentore hinnehmen muss. Seit Wiederaufnahme des Spielbetriebs nach der Corona-Pause sind es schon wieder sieben in drei Begegnungen. Trotz der vermeintlichen Hochkaräter in der Abwehr, die allesamt Bundesliga-Ansprüche formulieren.

„Die Anzahl der Gegentore stimmt schon bedenklich“, sagt Matarazzo, „mir wäre ein 4:0 lieber als ein 4:3.“ Von einer solchen Souveränität, wie sie sich der Coach wünscht, ist sein Team jedoch nicht nur ergebnistechnisch weit entfernt. Die Mannschaft wirkte gegen den HSV anfangs verunsichert, gar ängstlich. Es bedurfte einer besonderen Halbzeitansprache, um den Spielern klarzumachen, dass sie nach dem 0:2-Rückstand nun nichts mehr zu verlieren hätten. „Wichtig ist nicht so sehr, was man sagt oder wie man es sagt, sondern dass man es schafft, den Resetknopf zu drücken“, sagt Matarazzo. Er fand den Schalter – und der Glaube, das Geschehen noch drehen zu können, kehrte auch dank des schnellen Anschlusstors durch Wataru Endo (47.) zurück.

Auf was kommt es nun in Dresden an?

Wie der weitere Torschütze und Vorlagengeber Nicolas Gonzalez (60./Foulelfmeter) avancierte der Japaner zu einem Impulsspieler, als die Begegnung mit den Hanseaten verloren schien. „So ein Sieg setzt neue Energie frei“, sagt Matarazzo vor der Auswärtspartie am Sonntag (13.30 Uhr) bei Dynamo Dresden. Der Italoamerikaner betont aber ebenso: „Wir müssen die Energie richtig kanalisieren. Uns muss bewusst sein, dass wir gegen Dynamo nur gewinnen können, wenn wir einen ähnlichen Einsatz wie gegen die Hamburger in der zweiten Hälfte zeigen.“

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Ob das gelingt, führt in der Nachbetrachtung zu der Frage, die den VfB bereits lange begleitet: War das ein Sieg, der über einen Spieltag hinaus wirkt? Oder ergeht es den Stuttgartern wie schon häufig in der Vergangenheit, dass sie es nicht verstehen, aus einem Erfolgserlebnis mehr als drei Punkte zu machen?

Viel Psychologie ist da im Spiel. Und ein wenig Taktik. Mit weiter, weiter, immer weiter hat der einstige Torwarttitan und jetzige Bayern-Vorstand Oliver Kahn die Siegermentalität beschrieben, die aus Verlierern plötzlich Gewinner machen kann. In Fußballerkreisen ist diese Haltung zum Mantra geworden, und der VfB entdeckte mit ihr die Leidenschaft wieder.

Eine Systemumstellung benötigte die Elf jedoch ebenso. Zumal Matarazzo zu den Trainern gehört, die ein Spiel durchdenken und ihren Plan während der Aufführung gerne anpassen. Im Saisonendspurt geht es jedoch nicht immer um das Planbare, sondern um Charakter und Glück. Das eine haben die Stuttgarter nun gezeigt, das andere spät erzwungen – was die Kraft des Glaubens stärkt.