Das Abräumen der Gleise wird Jahre dauern, großflächiger Wohnungsbau hier erst nach 2030 stattfinden. Foto: Lichtgut/Achim Zweygarth

Mit habhaftem Wohnungsbau kann die Stadt auf den S-21-Flächen in diesem Jahrzehnt nicht mehr beginnen. Mieter- und Grundeigentümerverein machen den OB dafür verantwortlich.

Stuttgart - Die Landeshauptstadt wird die heutigen Bahnflächen in der City voraussichtlich erst zwischen 2035 und 2037 für den Wohnungsbau nutzen können – eigentlich sollte das noch in diesem Jahrzehnt geschehen. Um früher bauen zu können, soll der 2001 zwischen Bahn und Stadt geschlossene Kaufvertrag für die S-21-Grundstücke neu ausgehandelt werden. Das Verfahren dazu wird im Rathaus nicht öffentlich behandelt. Der Gemeinderat soll der Verwaltung am 9. Juli Verhandlungsfreiheit gewähren.

Die Misere um die dringend benötigten Grundstücke – auf dem Gelände geht es um rund 6000 Wohnungen – soll dadurch entschärft werden, dass die Stadt den Abbau der Bahnanlagen selbst übernimmt und Verfahren kürzt. In der Ratsvorlage werden die Knackpunkte beschrieben: Gemäß des alten Grundstücksvertrags gilt ein zeitraubendes dreistufiges Vorgehen. Die Bahn stellt Anträge für den Gleisrückbau beim Eisenbahn-Bundesamt (Eba), dann für die Entwidmung vom Eisenbahnbetrieb, dann realisiert die Stadt den Wohnungsbau. Und die Bahn würde geschützte Mauereidechsen auf dem Gelände mehrfach hin- und hersiedeln. Das sei „weder zielführend noch wirtschaftlich“, heißt es im Papier. Nun will die Stadt den Gleisrückbau ohne Planfeststellungsverfahren direkt auf Basis der Bauleitplanung genehmigen und abwickeln. So gewinne man auch „weitergehende rechtliche Möglichkeiten zur Bewältigung des Artenschutzes“. So erhofft die Stadt sich Zeitgewinn und Wohnungsbau ab 2032.

Die Bahn will keine Verzugszinsen zahlen

Ein weiterer Knackpunkt ist die vereinbarte Zahlung von Verzugszinsen durch die Bahn von 2021 an – pro Monat rund eine Million Euro. Die Bahn habe angekündigt, dieZinsen streitig stellen zu wollen. Das verwundert nicht, denn der Konzern hat seine Partner bei S 21 bereits auf die Mitzahlung von rund 3,7 Milliarden Euro Projekt-Mehrkosten verklagt. Er sieht die Ursache der jahrelangen Verzögerungen nicht allein bei sich.

Baubürgermeister Peter Pätzold (Grüne) erklärte am Freitag per Pressemitteilung, die Stadt wolle „keinesfalls erst mit der Bebauung beginnen, wenn das gesamte Gleisvorfeld durch die Bahn abgeräumt ist“. Man wolle „nicht bis 2032 warten“, sondern schon 2023 bei den Wagenhallen die Ausweichspielstätte für die Oper und „auch Wohnungsbau“ angehen und von 2026 an am Hauptbahnhof bauen. Doch das ist seit Langem bekannt und beim Thema Wohnen kein Befreiungsschlag. Am Bahnhof muss die DB eine Tiefgarage erstellen, oberirdisch ist Handel oder Kultur im Gespräch. Die Daten 2035 bis 2037, im günstigen Fall 2032, waren den Fraktionschefs im Rat bei einer vertraulichen Zusammenkunft mit OB Fritz Kuhn und Pätzold genannt worden. Im Beschlusspapier für den Rat stehen sie nicht.

Harsche Reaktionen

Die Reaktionen fielen am Freitag harsch aus. „Die Wohnungen auf dem S-21-Gelände sind fest für die nächsten Jahre eingeplant. Das ist eine Katastrophe, wenn sie so viel später kommen“, sagte Rolf Gaßmann, Chef des Mietervereins Stuttgart und Umgebung, unserer Zeitung. Er versteht nicht, weshalb die Stadtverwaltung und die Bahn AG die Problematik nicht viel früher geklärt hätten. Selbst die Entscheidung im Planungswettbewerb für das Rosensteinviertel liege inzwischen ein Jahr zurück. Um das Eidechsenvorkommen wisse man seit gut einem Jahrzehnt. Die Verwaltung müsse sich schleunigst anstrengen, einen möglichst zügigen Baustart zu erreichen. Würde die Beschleunigung die Stadt eine Million kosten, wäre das verkraftbar, meint Gaßmann, denn mit jedem Jahr Bauverzug werde das Bauen teurer. Notfalls müssten die Führung der Bahn, namentlich Vorstand Ronald Pofalla, und die Politik und da speziell die CDU sich um eine schnellere Wirksamkeit des Projekts für den Wohnungsmarkt kümmern.

Beim Haus- und Grundbesitzerverein Stuttgart versteht der Geschäftsführer Ulrich Wecker nicht recht, was da schiefgelaufen ist. Auf jeden Fall aber fühlt er sich „an der Nase herumgeführt“. Der Grund: Als sie die niedrige Fertigstellungsrate von 1800 Wohnungen pro Jahr in Stuttgart verteidigt hätten, hätten OB Kuhn und Baubürgermeister Pätzold stets auf das Potenzial durch Stuttgart 21 verwiesen. Wecker: „Sie versprachen, dass sie das Projekt mit Macht vorantreiben würden. Offenbar haben sie sich um Dekaden verschätzt.“ Insofern seien dem Bündnis für Wohnen „falsche Voraussetzungen“ bei den Debatten über den Wohnungsbau genannt worden. „Gutes Verwaltungshandeln wäre, dass man eine Ahnung davon hat, was in der Stadt passiert, vor allem bei so sensiblen Dingen wie der Wohnungsversorgung“, sagte Wecker.

Linksbündnis: Wohnbau ein Phantom

Hannes Rockenbauch (SÖS), der Sprecher des Linksbündnisses im Rathaus, reagierte in einer Pressemitteilung. „Das letzte, positiv aufladbare Argument für den Weiterbau der Stuttgart-21-Befürworter in Verwaltung und Stadtrat ist damit Makulatur: das Rosensteinviertel und die Wohnungsbaupotenziale entpuppen sich als das, was sie sind: ein Phantom.“ Dafür sei der ganzen Stadt über Jahrzehnte hinweg Chaos zugemutet worden.