Ein verheerender Luftangriff Israels in Rafah löst weltweit Entsetzen aus – und ruft den Weltsicherheitsrat auf den Plan. Hat das Land die „rote Linie“ der USA verletzt?
Ein verheerender Luftangriff im Gazastreifen sorgt weltweit für Entsetzen. In dem betroffenen Flüchtlingslager in Rafah sind etliche Menschen ums Leben gekommen. Weil Israels Führung ungeachtet dessen an ihren Kriegszielen festhält, soll der Weltsicherheitsrat zu einer Dringlichkeitssitzung zusammenkommen. Diplomaten aus dem mächtigsten Gremium der Vereinten Nationen berichteten, das Treffen sei für diesen Dienstag 21.30 Uhr MESZ angesetzt.
Ein Sprecher des US-Außenministeriums bezeichnete die Bilder aus dem Zeltlager für Vertriebene im südlichen Gazastreifen als „herzzerreißend“. Man arbeite mit der israelischen Armee und Partnern vor Ort zusammen, um die Umstände des Luftangriffs zu klären. Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu sprach im Parlament von einem „tragischen“ Vorfall, aus dem man lernen werde.
Zugleich betonte er nach Angaben seines Büros vom Montagabend jedoch: „Ich werde nicht nachgeben oder kapitulieren. Ich werde den Krieg nicht beenden, bevor wir alle unsere Ziele erreicht haben.“
Internationale Gerichtshof: Militäreinsatz in Rafah sofort beenden
Experten hatten vor dem Angriff auf Rafah vor einer Katastrophe gewarnt. In der Stadt an der Grenze zu Ägypten hatten vor der israelischen Offensive mehr als eine Million Menschen Zuflucht vor den seit Oktober andauernden Kämpfen gesucht.
Der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs, Karim Khan, hatte am Montag Haftbefehle wegen mutmaßlicher Verbrechen gegen die Menschlichkeit gegen Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu und Verteidigungsminister Joav Galant beantragt. Darüber muss das Gericht aber noch entscheiden.
Am Freitag hatte dann der Internationale Gerichtshof Israel verpflichtet, den Militäreinsatz in Rafah sofort zu beenden. In der Eilentscheidung ließen die Richter in dem von Südafrika angestoßenen Verfahren aber die Frage offen, ob Israel einen Völkermord begehe. Diese müsse in einem Hauptverfahren geklärt werden. Es dürften keine Lebensbedingungen geschaffen werden, „die zur vollständigen oder teilweisen Vernichtung der palästinensischen Bevölkerung in Gaza führen könnten“, hieß es im Richterspruch.
Das Weltgericht ordnete aber keine Waffenruhe für Gaza an. Seine Entscheidungen sind bindend. Allerdings haben die UN-Richter keine Mittel, um einen Staat zur Umsetzung zu zwingen. Israel beruft sich bei seinem Militäreinsatz im Gazastreifen auf sein Selbstverteidigungsrecht.
Was bedeutet #alleyesonrafah?
In den sozialen Netzwerken hatte bereits vor dem Angriff und den zahlreichen Todesopfern der Hashtag #alleyesonrafah die Runde gemacht. Ins Deutsche übersetzt bedeutet der Satz: Alle Augen auf Rafah. Damit machten Nutzerinnen und Nutzer auf die verheerenden Zustände und die Gefahr für die Geflüchteten aufmerksam und brachten auch ihre Wut und Trauer über die Opfer zum Ausdruck.
Im Netz kursierten nach dem Luftangriff verstörende Videos, die zeigen, wie verkohlte Leichen aus brennenden Zelten geborgen werden. Israels Armee hatte mitgeteilt, Vorkehrungen getroffen zu haben, um das Risiko für Zivilisten zu verringern. So sei bei dem Angriff präzise Munition eingesetzt und das Gebiet aus der Luft überwacht worden.
Israelische Beamte hätten der verbündeten US-Regierung erklärt, sie glaubten, dass nach dem Luftangriff ein 100 Meter entfernter Treibstofftank möglicherweise durch Granatsplitter Feuer gefangen habe, zitierte der Sender „ABC News“ am Montag einen US-Beamten. Dadurch habe ein Zelt Feuer gefangen, was wiederum zu dem verheerenden Brand in dem Lager geführt habe. Den USA lägen jedoch keine eindeutigen Informationen hierzu vor.
Vor allem Frauen und Minderjährige unter den Opfern
Das israelische Militär hatte bei der Attacke auf ein Lager für Vertriebene am Sonntagabend nach Angaben der palästinensischen Gesundheitsbehörde mindestens 45 Menschen getötet und Dutzende weitere verletzt.
Bei den meisten Toten handelt es sich demnach um Frauen und Minderjährige. UN-Generalsekretär António Guterres verurteilte Israels Vorgehen und forderte: „Dieser Horror muss aufhören.“
Ein Sprecher des US-Außenministeriums betonte, Israel habe das Recht, gegen die Islamisten der Hamas vorzugehen. Den vorliegenden Informationen zufolge seien bei dem Angriff zwei ranghohe Terroristen getötet worden. „Aber wie wir bereits deutlich gemacht haben, muss Israel alle möglichen Vorkehrungen treffen, um die Zivilbevölkerung zu schützen“, sagte er. Und in diesem Fall seien Dutzende unschuldige Palästinenser getötet worden.
US-Regierung will Angriff noch nicht bewerten
Unterdessen sagten zwei US-Beamte dem Nachrichtenportal „Axios“, die Regierung von US-Präsident Joe Biden prüfe noch, ob der tödliche Luftangriff eine Verletzung der von Biden proklamierten „roten Linie“ darstelle. Biden hatte Israel unlängst gedroht, die Lieferung einiger US-Waffen auszusetzen, sollte Israels Armee in dicht besiedelte Stadtzentren in Rafah eindringen.
Die US-Regierung lehnt eine große israelische Bodenoffensive in der an Ägypten grenzenden Stadt ab, hatte zuletzt jedoch erklärt, die Einsätze dort hätten bislang nicht das Ausmaß erreicht, vor dem sie gewarnt habe. Die Frage, ob das Außenministerium die Situation nach dem jüngsten Luftangriff weiterhin so bewerte, beantwortete der Sprecher am Montag nicht.
Ob die Sitzung des Weltsicherheitsrats öffentlich oder hinter verschlossenen Türen abgehalten wird, ist noch unklar. Letzteres schien einer Diplomatin zufolge wahrscheinlicher.