Baden-Württemberg ist offen für ukrainische Flüchtlinge – dieses Bild wollte auch Ministerpräsident Kretschmann beim Besuch in der LEA Sigmaringen vermitteln. Doch wie weit trägt die Hilfsbereitschaft? Foto: dpa/Felix Kästle

Bilder eines hilfsbereiten Deutschlands bestimmen diese Tage. Das war auch 2015 so. Doch damals folgten auf Applaus am Bahnhof häufig unnötige bürokratische Hürden. Das sollte uns eine Lehre sein, schreibt unsere Kolumnistin Siri Warrlich.

Vor knapp zweieinhalb Jahren stand beim Bäcker Christian Schultheiß in Ostfildern die Polizei in der Backstube. Die Beamten wollten seinen Mitarbeiter Naser Samadi mitnehmen, um ihn abzuschieben. Jahrelang hatte der Afghane schon bei Schultheiß gearbeitet und seine Bäckerlehre abgeschlossen.

Wer mit Bäckern oder Metzgern redet, hört immer wieder, dass fleißige Mitarbeiter händeringend gesucht werden. Das Problem von Naser Samadi: Er hatte bei seiner Einreise einen gefälschten Pass vorgelegt und war deshalb wegen Urkundenfälschung verurteilt worden. Laut seiner Anwältin habe er seine Identität zügig aufgeklärt. „Flüchtlinge können nicht ‚legal’ einreisen, viele kommen mit einem falschen Pass“, sagte die Anwältin damals. Trotzdem galt Samadi fortan als Straftäter. Sein Chef fiel aus allen Wolken und organisierte übers Wochenende besagte Anwältin. Schlussendlich konnte die Abschiebung verhindert werden. Im März 2022 arbeitet Samadi noch immer in der Bäckerei.

Leider komme es auch heute noch zur Abschiebung von gut integrierten Beschäftigten, schreibt die IHK Region Stuttgart auf Anfrage – zum Beispiel, wenn die Möglichkeit der Beschäftigungsduldung weder Betrieb noch Beschäftigtem bekannt seien.

Die richtigen Dokumente sind oft schwer zu beschaffen

Eine Beschäftigungsduldung bedeutet: Menschen, deren Asylantrag abgelehnt wurde, die aber seit mindestens 18 Monaten 35 Stunden die Woche sozialversicherungspflichtig arbeiten, können unter bestimmten Voraussetzungen eine Bleibeperspektive bekommen - für 30 Monate. Die Hürden sind hoch. Zum Beispiel erfüllen viele Antragsteller die Bedingung nicht, dass sie schon die vorangegangenen zwölf Monate im Besitz einer Duldung gewesen sein müssen.

Wem das noch nicht kompliziert genug ist: Neben der Beschäftigungs- gibt es die Ausbildungsduldung. Sie sieht vor, dass Menschen für die Dauer einer dreijährigen Ausbildung plus anschließend einer zweijährigen Beschäftigungszeit nicht abgeschoben werden. Der IHK Stuttgart sind Einzelfälle bekannt, in denen Afghanen keine Ausbildungsduldung erteilt wurde, weil ihre Identität als nicht abschließend geklärt angesehen wurde – etwa, wenn die Betroffenen nicht an Pass oder Geburtsurkunde kommen, weil afghanische Botschaften seit der Machtübernahme der Taliban vergangenen Sommer nur noch eingeschränkt arbeiten.

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Zur Erinnerung: Afghanistan, Taliban. Ortskräfte der Bundeswehr und anderer deutscher Behörden vor Ort. Das furchtbare Versagen der Bundesregierung, das Leben dieser Menschen zu schützen. Afghanen, die sich an startende Flugzeuge klammern, um der Gewaltherrschaft der Taliban zu entkommen. Aber ohne amtliches Dokument, am liebsten mit biometrischen Merkmalen? Sorry. Wird dann schwierig in Deutschland.

Die Beispiele zeigen: Einigen Menschen, die auf der Suche nach einem sicheren Leben nach Deutschland gekommen sind und die noch dazu sehr gerne hier arbeiten wollen, wurde das sehr schwer gemacht. Darüber sollte die Hilfsbereitschaft, die Deutschland jetzt gegenüber ukrainischen Flüchtlingen zeigt, nicht hinwegtäuschen.

Die rechtliche Situation der Menschen, die jetzt aus der Ukraine fliehen, ist grundlegend anders. Zum ersten Mal hat die EU eine Richtlinie für den Fall eines „massenhaften Zustroms“ von Vertriebenen aktiviert. Deshalb müssen Flüchtlinge aus der Ukraine keinen regulären Asylantrag stellen, sondern erhalten eine vorübergehende Aufenthaltserlaubnis.

Was passiert mit Ukrainern, die dauerhaft bleiben wollen?

Dennoch werden sie in den nächsten Wochen und Monaten mit den Ausländerbehörden zu tun haben – und es sind Fragen offen. Was ist zum Beispiel mit Jugendlichen, die in der Ukraine kurz vor ihrem Schulabschluss standen? Wie sollen junge Ukrainer, die hier an die Uni wollen, ein Studium finanzieren? Laut Wissenschaftsministerium haben sie in der Regel keinen Bafög-Anspruch, doch die Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, die ihnen zustehen, sind deutlich geringer als der Bafög-Höchstsatz und dürften für die Finanzierung eines Studiums kaum ausreichen.

Und was passiert eigentlich nach dem Ablauf der Aufenthaltserlaubnis, wenn jemand aus der Ukraine womöglich hier Fuß gefasst, einen guten Arbeitsplatz hat und in Deutschland bleiben will – ähnlich wie der afghanische Bäcker Naser Samadi? Deutschland täte gut daran, integrationspolitische Fehler der vergangenen Jahre jetzt nicht zu wiederholen.