Das Tagebuch muss sich ziemlich viel Gejammer anhören. Aber dafür ist es ja da. Foto: wel/wel

Wenn Eltern gerade jammern, wie schlimm die Krise für ihre Kinder ist, dann meinen sie eigentlich vor allem sich selbst, schreibt unsere Kolumnistin in ihr Corona-Tagebuch. Dabei tut sie sich heute selbst ziemlich leid.

Stuttgart, 25. Oktober 2020 - Liebes Tagebuch,

jetzt habe ich lange nichts mehr geschrieben. Das lag vielleicht daran, dass die letzten Monate alles recht gut lief. Die Kinder waren wieder im Kindergarten, im Fußballtraining und Turnen. Wir machten Ausflüge und trafen Freunde zum Grillen. In den Sommerferien saßen wir in einem Strandkorb an der Nordsee und vor ein paar Wochen wurde der Sohn tatsächlich eingeschult, also mit kleiner Feier und so.

Klar, da sind immer diese Masken, die Kolleginnen und Kollegen sieht man nur noch im Video vor ihrer heimischen Schwammtechnik-Wand sitzen und überhaupt darf man niemandem mehr zu nahe kommen. Aber an all das habe ich mich ziemlich schnell gewöhnt. Manches finde ich sogar gut. Ich habe zum Beispiel noch nie verstanden, warum sich alle plötzlich immer umarmen mussten. Und ich habe auch nix gegen Jogginghosen. Ich finde es sogar sehr entlastend, morgens von der Schlafanzug- direkt in die Jogginghose wechseln zu können (okay, manchmal schaffe ich es jetzt tagelang nicht mehr aus der Jogginghose heraus...). Und dass wir nicht mehr jedes Wochenende denken, irgendwohin fahren zu müssen, ist irgendwie auch gut.

Der Rücken tut weh

Aber jetzt sitze ich hier an meinem Homeoffice-Arbeitsplatz. Der Rücken tut mir weh, weil ich keinen richtigen Bürostuhl habe, ich muss noch einkaufen, weil wir ständig alle zu Hause sind und Berge an Essen brauchen, und vor dem Fenster regnet es aus einem grauen Himmel ohne Pause. Der Herbst ist da. Das war bislang meine Lieblingsjahreszeit. Weil man ohne schlechtes Gewissen drin sitzen kann und nicht draußen „aktiv“ sein muss. Außerdem mag ich Kastanien. Die fühlen sich so gut an in der Hand.

Aber dieses Jahr mag ich den Herbst gar nicht. Ich habe nämlich das Gefühl, dass wir die kommenden Monate sehr viel drin sitzen werden. Also nicht können, sondern müssen. Und zwar alle. Immer. Gemeinsam. In den letzten Tagen habe ich das Gefühl, dass sich langsam eine Schlinge um meinen Hals zusammenzieht. Die Corona-Zahlen steigen und unsere Welt wird wieder klein. Freundinnen sagen Treffen ab. Der Fußball-Trainer war in Quarantäne. In der Kita machen sie keine Ausflüge mehr. Und beim Elternabend sagt die Lehrerin, wir sollen uns schon mal ins Homeschooling-Tool einarbeiten.

Ich würde jetzt sogar gern neben dem Laber-Kollegen sitzen

Alles wird jetzt schon für die nächsten Wochen abgesagt. Der Laternenlauf. Die Weihnachtsfeiern. Das Plätzchenbacken. Wahrscheinlich muss auch der Nikolaus demnächst in Quarantäne, weil der Nordpol – oder wo der halt wohnt – Risikogebiet ist. Vieles, was ich in der Adventszeit bislang doof fand, würde ich dieses Jahr plötzlich gern machen. Zum Beispiel Glühwein trinken auf dem Weihnachtsmarkt und dabei ständig angerempelt werden. Oder in überfüllten Geschäften Weihnachtsgeschenke kaufen. Oder Waffelteig für den Kita-Stand beim Adventsbasar zusammenrühren. Oder bei der Büro-Weihnachtsfeier neben dem Kollegen stehen, der so viel redet.

Abends sitze ich jetzt fast immer mit dem Mann auf dem Sofa. Gerade gucken wir so eine Serie, in der Terroristen den US-Kongress in die Luft sprengen und danach eine neue Zeit beginnt. Das kommt mir auch nicht arg viel surrealer vor als unser neuer Alltag.

Nie wieder theoretisch in wilde Clubs gehen können

Ich glaube, das Schlimmste ist, dass ich langsam kapiere, dass es noch lange Zeit so weiter gehen könnte. Und dass ich vielleicht nie wieder in verrauchte Clubs, in die Oper oder zu wilden Partys gehen kann. Gut, das hab ich in den letzten Jahren auch nicht wirklich oft gemacht, aber rein theoretisch wäre es schon möglich gewesen.

Um mich aufzuheitern, rufe ich manchmal meine 94-jährige Großmutter an und sage zu ihr: „Du hast ja deine ganze Kindheit und Jugend im Krieg verbracht und nix zu essen gehabt, das war doch viel schlimmer!“ Aber dann sagt die Großmutter: „Also ich war lieber damals jung als heute.“ Das hilft mir dann auch nicht wirklich weiter.

Die Kinder nehmen es locker

Schön ist, dass es die Kinder viel lockerer nehmen als ich. Für sie ist Corona jetzt normal. „Gell, Corona geht nicht so schnell weg!?“, sagte der Sohn kürzlich. Und dann spielte er einfach weiter Römer gegen Piraten. Ich glaube, wenn die Eltern jetzt immer so sehr jammern, wie schlimm die Krise für ihre Kinder ist, dann meinen sie eigentlich vor allem sich selbst.

Okay, ich hab jetzt auch die ganze Zeit rumgejammert. Tut mir leid. Ach was: Tut es mir gar nicht! Das tat jetzt nämlich richtig gut. Es geht mir schon ein bisschen besser.

Deine Lisa

Lesen Sie hier Teil 1 des Corona-Tagebuchs unserer Kolumnistin.

Lisa Welzhofer ist Autorin der Stuttgarter Nachrichten und Mutter zweier Kinder. In ihrer Kolumne macht sie sich regelmäßig Gedanken übers Elternsein, über Kinder, Kessel und mehr. Sie schreibt im Wechsel mit ihrem Kollegen Michael Setzer, der als „Kindskopf“ von seinem Leben zwischen Metal-Musik und Vatersein erzählt.