Viele Forscher sind zu wenig innovativ – sagen zumindest andere Forscher. Foto: dpa//Labor

Hatten Sie heute noch keinen disruptiven Gedanken? Dann geht es Ihnen wie vielen Forschern, die sich im Rennen um eine lange Publikationsliste lieber mit der schrittweisen Verfeinerung bereits vorhandener Konzepte befassen.

Das wissenschaftliche Zentralorgan „Nature“ publizierte dieser Tage eine besorgniserregende Studie von Forschenden der University of Minnesota in Minneapolis. Demnach machen Wissenschaftler weltweit immer weniger bahnbrechende Entdeckungen, auf die man das Modewort „disruptiv“ anwenden könnte, weil sie alle bisherigen Erkenntnisse infrage stellen. In diese Kategorie fällt etwa Albert Einsteins Relativitätstheorie oder die Aufklärung der DNS-Struktur durch James Watson und Francis Crick.

Ein verbreitetes Maß für die Qualität wissenschaftlicher Arbeiten ist die Häufigkeit, mit der sie zitiert werden. Wichtig ist zudem das Renommee der Fachzeitschrift, in welcher ein Artikel erscheint. Die Urheber der Studien-Studie aus Minneapolis gingen anders vor: Sie schauten darauf, ob andere Wissenschaftler, die eine Arbeit zitierten, dabei auch auf ältere Veröffentlichungen zum selben Thema verwiesen. War dies der Fall, wurden neue Artikel oder Patente als wenig innovativ eingestuft, weil sie lediglich bestehendes Wissen vertieften (was natürlich auch nützlich sein kann).

Kaum Revolutionäres

Bei einer revolutionären Entdeckung, so die Überlegung der Forscher, wären dagegen frühere Arbeiten auf diesem Gebiet uninteressant und würden in späteren Veröffentlichungen nicht mehr zitiert. Anhand dieser Kriterien bewerteten die Autoren gut 45 Millionen Fachartikel sowie 3,9 Millionen Patente aus den Jahren 1945 bis 2010 und vergaben je nach Innovationsgrad Noten von minus 1 (mehr vom Selben) bis plus 1 (revolutionär). Ergebnis: In den untersuchten Forschungsrichtungen ist der aus den Noten errechnete Innovationsindex seit 1945 um 92 bis 100 Prozent gesunken. Letzterer Wert bedeutet, dass auf einem Fachgebiet seitdem überhaupt nichts Revolutionäres mehr entdeckt worden ist. Angesichts der Tatsache, dass die Probleme auf der Welt jeden Tag ein bisschen größer werden, ist es gelinde gesagt beängstigend, dass vielen Forschern anscheinend nichts Neues mehr einfällt.

Liegt es daran, dass die wirklich großen Dinge schon erforscht sind und es nur noch darum geht, hier und da ein bisschen zu optimieren? Hm, wir wüssten schon noch ein paar Fragen, die weiter der Klärung bedürfen. Woraus besteht etwa der größte Teil des Universums? Gängigen Theorien zufolge enthält es 69 Prozent Dunkle Energie und 26 Prozent Dunkle Materie – doch beides wurde bisher nicht zweifelsfrei nachgewiesen. Wie besiegen wir endlich den Krebs? Wie können zehn Milliarden Menschen unter akzeptablen Bedingungen leben, ohne dass das Ökosystem Erde komplett den Bach runtergeht?

Eine plausible Erklärung für den rückläufigen Anteil von Publikationen mit epochalen Erkenntnissen ist die fast schon exponentiell wachsende Zahl neuer Fachartikel. Immer mehr Forscher warten nicht mal mehr ab, bis Fachkollegen ihre Arbeiten kritisch begutachtet haben, und veröffentlichen sogenannte Preprints. Je mehr Studien publiziert werden, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich darunter auch solche mit wenig überraschenden Ergebnissen befinden – ein typischer Verdünnungseffekt.

Forscher unter Publikationsdruck

Gerade von jungen Wissenschaftlern wird im Wettbewerb um Forschungsgelder und -positionen erwartet, dass sie schnell und viel publizieren, wie auch die Autoren der Studien-Studie beklagen. Dieses Klasse-statt-Masse-Prinzip sorgt zwar für lange Publikationslisten, macht es aber schwer, abseits bekannter Pfade zu denken – und zu völlig neuen Erkenntnissen zu kommen.

Ganz so desolat, wie man vor diesem Hintergrund glauben könnte, ist die Lage aber auch nicht. Bei genauerem Hinsehen hat die Wissenschaft auf manchen Gebieten auch in jüngerer Zeit nicht nur Trippelschritte gemacht, sondern große Sprünge – etwa mit der Entdeckung und Nutzbarmachung der Genschere Crispr, dem Nachweis der Gravitationswellen oder der Entwicklung von mRNA-Impfstoffen. Allerdings können solche Einzelerfolge den Klassenschnitt kaum heben, wenn gleichzeitig immer mehr mittelmäßige Ergebnisse auf den Markt geworfen werden. Das ergibt sich aus den altbekannten Gesetzen der Statistik. Sorry, mehr Disruption ist heute einfach nicht drin.