Vater mit Kind – in der Symbolsprache Metacom, die ganz vielen Menschen dabei hilft, ihre Bedürfnisse zu äußern. Foto: Annette Kitzinger/Metacom

Die fünfjährige Tochter unseres Autors kam mit einem seltenen Gendefekt zur Welt. Ein fehlendes Protein verhindert, dass ihre Worte die richtige Abzweigung nehmen.

Stuttgart - Ich habe immer davon geträumt, dass meine Tochter mal Astrophysikerin wird, oder Astronautin oder – aus aktuellem Anlass – Virologin. Dabei ist es naiv, die eigenen Kinder mit Träumen zu überfrachten.

In meinem Fall hat unsere Tochter Wünsche und Träume auf ihre ganz eigene Weise relativiert. Das jetzt fünfjährige Mädchen kam mit einem seltenen Gendefekt zur Welt, der sich sehr hinterhältig äußert: Zunächst ist (fast) alles eitel Sonnenschein. Dann verlernen die Mädchen – Jungs betrifft diese Gen-Mutation kaum – zu sprechen und bei besonders schweren Verläufen können sich die Mädchen schließlich nicht mehr allein fortbewegen.

2020 kam die Diagnose

Wenn man schon ein älteres Kind hat, vergleicht man seine Kinder, bewusst und unbewusst. Uns war schon früh klar, dass sich unsere Tochter anders entwickelt als gedacht. Nach einer Ärzteodyssee erhielten wir an Pfingsten 2020 die Diagnose. Wäre ich nicht schon längst aus der Kirche ausgetreten, hätte ich spätestens zu diesem Zeitpunkt Schluss mit Gott gemacht: Ausgerechnet am Fest des Sprachwunders, an dem die Jünger Jesu auf einmal alle Sprachen sprechen konnten, einem kleinen Mädchen für immer die Sprache zu rauben, ist so dermaßen ungerecht, dass ich immer noch wütend bin.

Heute, eineinhalb Jahre nach der Diagnose, hat unsere Kleine noch einen Wortschatz von knapp 20 Begriffen. Dazu spricht sie oft in einer Geheimsprache, die meine Frau und ich am besten verstehen, weil wir das kleine Geschöpf ganz gut lesen können. Eine große Hilfe sind die Symbole von Annette Kitzinger. Die Grafikerin hat selbst eine Tochter, die nicht sprechen kann. Für ihre Meta hat sie Metacom erfunden, eine eigene Symbolsprache, die heute vielen Menschen dabei hilft, ihre Bedürfnisse zu äußern.

Es fehlt nur ein einziges Protein

Die Forschung vermutet, dass im Gehirn unserer Tochter alles da ist. Es fehlt nur ein Protein, das die Informationen von A nach B bringen sollte: Als wäre im gesamten Straßennetz das Benzin ausgegangen und der einzige Bote, der noch übrig ist, versucht mit einem Einrad mit einem platten Reifen permanent den Berg hochzufahren. Manchmal findet ein einziges weiteres Wort die richtige Abzweigung, unsere Tochter sagt dann aus dem Nichts „Tiere“, oder „Käse“, strahlt und kurz können wir unser Glück kaum fassen.

Die Schätze, die unsere Tochter in sich trägt, finden ansonsten aber keinen direkten Weg nach draußen. Deshalb hat sie keine gleichaltrigen Freunde. Deshalb wird sie – im Gegensatz zu unserem Großen – auch nie zu einem Kindergeburtstag eingeladen. Das bricht mir immer wieder das Herz.

Dafür erlebe ich mit meiner Tochter eine Welt, die mir ansonsten verschlossen geblieben wäre. Bei Instagram folge ich seit kurzem dem Hashtag #WieSiehtEinBehinderterMenschAus, ins Leben gerufen von einer Aktivistin, um mehr Sensibilität zu vermitteln und die eigenen Vorurteile über Behinderungen zu relativieren.

„Papa, nein, aua“

Unserer Tochter sieht man ihre Behinderung nicht an, weshalb ich immer wieder schräg angeschaut werde, wenn die Kleine im Supermarkt „Papa, nein, aua“ schreit. „Nein, aua“ bezieht sich bei ihr nicht auf körperliche Schmerzen, sondern auf Sinneseindrücke: Wenn ihr Bruder mit ihr geschimpft hat. Wenn ihr Vater, der Depp, vergessen hat, ihr eine Brezel zu kaufen, bevor es zum Einkaufen geht. Oder wenn im Supermarkt zu laute Musik läuft.

Mit dem Gendefekt einher geht nämlich eine Wahrnehmungsstörung. Meine Tochter hat Angst vor Soundquellen, die sie nicht zuordnen kann, vor tiefen Männerstimmen in einer Videokonferenz oder im Radio, an einem schlechten Tag vor der Lampe über unserem Küchentisch, wenn ich dagegen stoße und das Teil dann ein zuckendes Licht absondert. Deshalb bin ich großer Fan der Aktion „Stille Stunde im Supermarkt.“ Dabei verzichten Märkte für ein gewisses Zeitfenster für Menschen mit Autismus auf laute Musik, Durchsagen oder grelle Beleuchtung.

Neues ist blöd

Unsere Tochter steht Neuem nicht gerade aufgeschlossen gegenüber. Wenn sie irgendetwas aus ihrem Tagesablauf bringt, kann es sein, dass sie einen Meltdown hat, dass sie anfängt zu schreien. Manchmal mehr, manchmal weniger. Sie schreit manchmal auch, wenn sie Geschenke bekommt, weil die Situation für sie überfordernd ist. Das ist auf lange Sicht kostensparend, für den Moment aber meist frustrierend und traurig.

Als wir 2020 die Diagnose im Krankenhaus bekommen haben, mussten wir routinemäßig zu einer Psychologin. Die meinte im Laufe des Gesprächs zu uns, dass es keine Schande sei, das Kind in eine Einrichtung zu geben, wenn man nicht mehr könne.

Die Leiterin unserer Kita wiederum sagt, dass unsere Tochter auf einer Wolke im Himmel gesessen habe und sich die ihre Eltern ganz genau ausgesucht habe, nämlich die, die am meisten Liebe und Kraft gehabt hätten.

Die zweite der beiden Geschichten hat uns mehr überzeugt. Wir sind froh, dass unsere Traumtochter den Weg zu uns gefunden hat.

Unser Autor ist Redakteur der Stuttgarter Zeitung und Nachrichten. Er hat zwei Kinder – seine Tochter kam mit einem seltenen Gendefekt zur Welt.