Deutsche Soldaten richteten in Namibia den ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts an. (Archivbild) Foto: dpa/Friedrich Rohrmann

An den Kolonialismus zu erinnern, bedeutet mehr, als das Zurückgeben von Kunstgegenständen. Stuttgarter Historiker wünschen sich deshalb eine Aufarbeitung kolonialer Strukturen in der Region. Das Linksbündnis im Gemeinderat um Linke und SÖS geht darauf in einem Antrag ein.

Stuttgart - Die europäische Geschichte ist massiv geprägt vom Kolonialismus. In der öffentlichen Wahrnehmung ist das Thema allerdings erst zu Beginn des 21. Jahrhunderts mit der Rückgabe von Kunstgegenständen an ehemalige Kolonien aufgetaucht. Das Linksbündnis um Die Linke und das Bürgerbündnis SÖS im Stuttgarter Gemeinderat fordert nun eine intensive Aufarbeitung der städtischen Kolonialgeschichte. Es gebe Persönlichkeiten und Orte in Stuttgart, die im kolonialen Kontext „bisher kaum oder gar nicht bekannt und betrachtet werden“, heißt es in einem Antrag.

Stadtrat Luigi Pantisano hat den Vorschlag zum Durchleuchten der städtischen Kolonialgeschichte in den Haushaltsberatungen Ende September dieses Jahres eingebracht. Bei dem Antrag gehe „es weit über Kunstwerke hinaus“. In den Blick genommen werden sollen laut ihm alltäglichere Dinge, wie Händler, Unternehmen oder Verbände, die in koloniale Handlungen verwickelt waren. „Welche Menschen waren in Kriege verstrickt?“, fragt Pantisano etwa.

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Aber auch für koloniale Veranstaltungen, wie beispielsweise eine Ausstellung afrikanischer Menschen im Stuttgarter Stadtpark 1928, gebe es bislang nicht genügend Hinweise im Stadtbild. Der Antrag sieht deshalb eine Summe von 15.000 Euro vor, damit in Zusammenarbeit mit dem Stadtarchiv Wissenschaftler gefunden werden, die sich mit der kolonialen Geschichte in der Region beschäftigen sollen.

Von Kolonialtagungen und Straßennamen

Margret Frenz ist Geschichtswissenschaftlerin am historischen Institut der Universität Stuttgart. Auch sie sieht im Bereich Kolonialismus auf regionaler Ebene viel Aufklärungsbedarf. Zwar gebe es bereits Ansätze in der Forschung, aber: „Die historische Aufarbeitung hat gerade erst begonnen.“ Es sei „notwendig, da mehr Forschungsgelder zu investieren“. Dabei könne es zum Beispiel um Handelsverbindungen aus Stuttgart in afrikanische Länder oder die finanziellen Förderungen christlicher Missionen durch städtische Vereine gehen.

Mit den kolonialen Verflechtungen Württembergs in der Welt beschäftigt sich bereits seit Mai dieses Jahres im Stuttgarter Linden-Museum der Sozialwissenschaftler Heiko Wegmann. Besondere Aufmerksamkeit bekomme da auch Stuttgart, denn dort habe sich im kolonialen Kontext „sehr viel abgespielt“. Ist damit nicht genug für die zukünftige Aufarbeitung getan?

„Nein“, sagt Wegmann. „Ich kann viele Themen ausmachen, oft aber nur an der Oberfläche kratzen.“ Ein Team könne hingegen effektiv für mehr Vertiefungen sorgen und dabei „noch einiges an Arbeit leisten“. Seien es Forschungen zu wichtigen Kolonialtagungen in Stuttgart, zu historisch belasteten Straßennamen und Denkmälern oder zum kolonialen Gedankengut in der damaligen, regionalen Gesellschaft. Denn: „Kolonialismus gab es nicht nur in den Kolonien, sondern auch in Deutschland; und dann nicht nur in Berlin, sondern bis hinein ins kleinste Dorf.“ In Stuttgart-Obertürkheim etwa wurde im Jahr 2008 die Leutweinstraße in Am Weinberg umbenannt. Theodor Leutwein war federführend in der deutschen Kolonialverwaltung in Namibia tätig.

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Mangelhafte Quellenlage

Wissenschaftler stünden allerdings, wenn dem Antrag vom Linksbündnis um Die Linke und SÖS stattgegeben werden sollte, vor einer hohen Hürde. „Wir haben eine sehr mäßige Quellenlage“, sagt Roland Müller, Leiter des Stuttgarter Stadtarchivs. Das eigenständige Archiv sei erst 1928 gegründet worden – der deutsche Kolonialismus nahm jedoch bereits Ende des 19. Jahrhunderts an Fahrt auf.

Was vor allem fehlt, sind Gemeinderatsdokumente bis in die Zeit der Weimarer Republik, so Müller. Hinzu kämen Verluste ausgelagerter Bestände nach einem Brand und aktive Vernichtungen von Unterlagen durch die Nationalsozialisten. Forscher hätten jedoch die Möglichkeit, sich im Landes- und Bundesarchiv, in kommunalen Quellen und kirchlichen Archiven oder Ähnlichem umzuschauen.

Lehren aus der Geschichte

Als leuchtendes Beispiel beim Thema koloniale Aufarbeitung auf regionaler Ebene nennen Pantisano und Historiker in Stuttgart immer wieder Freiburg. Dort habe die Stadt bei der Freiburger Universität eine wissenschaftliche Studie veranlasst, die eine Publikation zur städtischen Kolonialgeschichte nach sich gezogen habe. Seit Jahren werde außerdem eine unabhängige Internetseite betrieben, die Aspekte in dem Bereich abdeckt.

Warum diese Form der Öffentlichkeit notwendig ist, erklärt der Sozialwissenschaftler am Linden-Museum, Heiko Wegmann: Es sei wichtig, zu verstehen, „woher das koloniale Denken kam und wie es heute weiterlebt, zum Beispiel in Werbung.“ Die Frage sei außerdem, wie die Gesellschaft damit umgehe, wenn aus den ehemaligen deutschen Kolonien, wie zum Beispiel Namibia, Forderungen nach Aufarbeitungen ertönen würden. Denn dort prägten die vergangenen kolonialen Festlegungen und Handlungen noch immer das tägliche Leben. So habe die deutsche Kolonialverwaltung beispielsweise Landesgrenzen gezogen, welche die vormals zusammengehörenden Gebiete und die darin lebenden Menschen entzweiten. „In Deutschland ist das Bewusstsein für die Taten unserer, auch regionaler Vorfahren, im Kolonialismus dagegen wenig vorhanden“, sagt Wegmann.

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Ob der Antrag umgesetzt wird, steht am 20. Dezember fest. „Ich habe da eine ganz gute Hoffnung“, sagt der SÖS-Stadtrat Pantisano und verweist auf Gespräche, die er bereits mit Gemeinderatskollegen geführt habe. In den kommenden Tagen stünden allerdings weitere Diskussionsrunden zu dem Thema an.