Schwester Anna-Luisa (re.) und eine tansanische Kollegin Foto: Vinzentinerinnen/Untermarchtal

Aus dem Kloster Untermarchtal werden Entwicklungsprojekte in Afrika gesteuert – und der Neubau einer Behindertenschule in Kenia. Dabei soll das alte Missionsdenken weichen – eine neue Strategie wird gesucht.

Untermarchtal - Von den grünen Ngong-Bergen rund 40 Kilometer entfernt von der kenianischen Hauptstadt Nairobi weht immer ein kalter Wind, und in der gleichnamigen Kleinstadt Ngong mit dem Wohnviertel Kibiko am Fuße der Berge können die Temperaturen schon mal auf fünf Grad fallen – und das unweit vom Äquator. Kein Wunder, dass die hier lebenden Massai nie ohne ihre roten Umhänge nach draußen gehen. Von solchen Umständen erzählt Schwester Anna-Luisa Kotz im modernen Verwaltungsneubau der Vinzentinerinnen im Kloster Untermarchtal(Alb-Donau-Kreis) und schiebt ein Mitbringsel über den Tisch: einen an einer Gehörlosenschule in Tansania hergestellten Notizblock mit afrikanischem Textileinband. In Tansania und Äthiopien ist die Genossenschaft der Barmherzigen Schwestern vom Heiligen Vinzenz – ihnen gehört unter anderem das Marienhospital in Stuttgart – seit langem mit Schulen, Krankenstationen und Hospitälern tätig.

Mehrfachbehinderte fallen durch alle Netze

Jetzt soll als neues Standbein der Entwicklungszusammenarbeit Kenia mit dem Standort Ngong-Kibiko hinzukommen. Geplant ist eine Einrichtung für mehrfachbehinderte Kinder – also Kinder mit einem körperlichen und einem geistigen Handicap. Während es für körperlich Behinderte durchaus schon Angebote gibt, fallen viele der Mehrfachbehinderten in Afrika durch alle Netze. „Wenn sie die ersten Jahre überleben, werden sie oft versteckt, oder sie verwahrlosen“, sagt Schwester Anna-Luisa.

Es sei der indische Priester Paul Chummar gewesen – ein Pendler zwischen Europa und Afrika – der sie auf die Idee für ein Projekt gebracht habe. „Wir haben festgestellt, dass der Wissenstransfer von Deutschland direkt nach Tansania in Fachfragen der Behindertenhilfe eher schwierig ist“, sagt Schwester Anna-Luisa. Möglicherweise sei der Transfer von Know-How von Kenia nach Tansania einfacher – in beiden Ländern wird immerhin Kisuaheli gesprochen – und auch dieser Aspekt gehört zu dem Projekt. Anders als in Tansania werden im wirtschaftlich weiter entwickelten Kenia bereits Sozialpädagogen ausgebildet – das Umfeld ist günstig für ein qualifiziertes Angebot.

Wegen der Kälte braucht man eine Solaranlage für warmes Wasser

Gebaut werden sollen eine Krankenstation und ein Rehabilitationszentrum für mehrfachbehinderte Kinder, in denen die Schützlinge ambulant versorgt oder ergotherapeutische Hilfe erhalten können. Außerdem wird eine Schule samt Internat für 110 Kinder und Jugendliche entstehen. Wegen der Kälte soll sie eine Solaranlage für das Aufbereiten von warmem Wasser erhalten. Auf Spenden für das – nach vorsichtigen Schätzungen 600 000 Euro teure Projekt – seien die Vinzentinerinnen aber angewiesen, sagt Schwester Anna-Luisa. Auch der laufende Betrieb müsse finanziert werden, allerdings hoffen die Vinzentinerinnen hier auch auf Unterstützung aus Kenia – sei es vom Staat oder der Gesellschaft, in der es zumindest im Umkreis von Nairobi auch eine prosperierende Mittelschicht und eine reiche Elite gibt. „Im Internat wollen wir die Kinder gemäß ihren Talenten betreuen, sie sollen unterstützt werden, damit sie eines Tages ein möglichst selbstständiges Leben führen können“, sagt Schwester Anna-Luisa. Je zwei tansanische und zwei deutsche Ordensschwestern sollen eines Tages in Kibiko leitend im Einsatz sein.

Gesucht wird ein neues Konzept für die internationale Gemeinschaft

Das Engagement des Klosters Untermarchtal in Afrika begann bereits 1960 in Tansania, wo heute 240 tansanische Schwestern arbeiten, sie haben die deutschen Vinzentinerinnen in der Zahl (etwa 260) bald eingeholt. In Äthiopien – wo man seit 2006 tätig ist – sind elf einheimische Ordensschwestern. Als Unterstützung und Hilfe sehen die Ordensschwestern ihr internationale Arbeit an. Das Wort „Mission“ – ein Bekehren zum rechten Glauben – passe da eigentlich nicht mehr in die Zeit, sagt Schwester Anna-Luisa, die offiziell den Titel der Missionsprokuratorin trägt. „Noch“, trage sie den Titel, sagt die Schwester, es sei gut möglich, dass er durch einen anderen Begriff ersetzt werde. Auch der Orden müsse seine Geschichte hinterfragen, die Verletzungen, die der Missionsgedanke in der Vergangenheit in anderen Ländern hinterlassen habe. Gerade in der aktuellen Diskussion über Rassismus werde dies immer deutlicher.

Es wachse ein Bewusstsein dafür, dass mit dem Glauben versucht worden sei, etwas zu „interkulturieren“, sagt Schwester Anna-Luisa. Bis 2022 wollen die Vinzentinerinnen eine „neue Struktur einer internationalen Gemeinschaft“ schaffen, derzeit laufen dazu die Vorbereitungen. Ein Leitungsteam, der Generalrat, soll zwar im Untermarchtal seinen Sitz behalten, die Dependancen in andere Ländern aber sollen in ihrer Eigenverantwortung gestärkt werden, man will sich mit ihnen künftig „auf Augenhöhe begegnen.“ Zeitlos, unwandelbar und immer eine Motivation für die Schwestern ist ein Zitat des Heiligen Vinzenz von Paul (1581 bis 1660), der Volksküchen und Hospitäler gründete und sich um Findelkinder kümmerte: „Liebe sei Tat.“