In Deutschland ist das Aus der Atomkraft beschlossene Sache. In Gundremmingen zum Beispiel wurde am Silvestertag 2021 der letzte Block abgeschaltet. In der EU spielt Kernkraft allerdings noch für einige Jahrzehnte eine zentrale Rolle. Foto: dpa/Karl-Josef Hildenbrand

Kernenergie könnte in der EU bald als klimafreundlich anerkannt werden. Die EU-Kommission legt einen entsprechenden Kriterienkatalog vor, der auch in der Bundesregierung auf scharfe Kritik stößt.

Brüssel - Klimafreundliche Atomenergie? Nach Ansicht der EU-Kommission ist das durchaus möglich. Sie will Investitionen in Gas- und Atomkraftwerke unter bestimmten Bedingungen als „grün“ einstufen. Das geht aus dem Entwurf eines Kriterienkataloges hervor, der am Neujahrstag öffentlich wurde. Nicht nur bei Umweltschützern löste diese sogenannte Taxonomie scharfe Kritik aus. Auch mehrere Mitglieder der Bundesregierung lehnen das Vorhaben vehement ab. Sie verweisen unter anderem auf die Sicherheitsrisiken und das nicht geklärte Problem mit der Entsorgung des Atommülls.

Die Grünen halten die Pläne für „absolut falsch“

Bundeswirtschafts- und Klimaschutzminister Robert Habeck (Grüne) erklärte am Samstag: „Es hätte aus unserer Sicht diese Ergänzung der Taxonomie-Regeln nicht gebraucht.“ Atomenergie als nachhaltig zu etikettieren, sei bei „dieser Hochrisikotechnologie falsch“. Ein solcher Schritt verstelle den Blick auf die langfristigen Auswirkungen für Mensch und Umwelt, der hoch radioaktive Atommüll werde die EU über Jahrhunderte belasten. Bundesumweltministerin Steffi Lemke (Grüne) hält die Pläne der EU-Kommission für „absolut falsch“.

Der Vorschlag der EU-Kommission sieht vor, dass Investitionen in neue Atomkraftwerke als grün klassifiziert werden können, wenn die Anlagen neusten technischen Standards entsprechen und wenn ein konkreter Plan für den Betrieb einer Entsorgungsanlage für hoch radioaktive Abfälle ab spätestens 2050 vorgelegt wird. Zudem ist als eine weitere Bedingung vorgesehen, dass die neuen kerntechnischen Anlagen bis 2045 eine Baugenehmigung erhalten. Investitionen in neue Gaskraftwerke sollen insbesondere auf Wunsch Deutschlands übergangsweise ebenfalls als grün eingestuft werden können. Dabei soll zum Beispiel relevant sein, wie viel Treibhausgase ausgestoßen werden. Für Anlagen, die nach dem 31. Dezember 2030 genehmigt werden, wären dem Vorschlag zufolge nur noch bis zu 100 Gramm sogenannte CO2-Äquivalente pro Kilowattstunde Energie erlaubt - gerechnet auf den Lebenszyklus.

Die Taxonomie als Richtlinie für die Investoren

Dieser Kriterienkatalog ist deshalb wichtig, da er die Weichen für große Finanzströme stellt. Bürger und Investoren sollen so klare Informationen über nachhaltige und klimafreundliche Finanzprodukte erhalten - das soll dabei helfen, die für die Klimawende benötigten Milliarden zu mobilisieren. Vor allem Frankreich hat sich für die Atomkraft stark gemacht, da das Land rund 70 Prozent seines Stromes aus Atomkraftwerken bezieht. Sie gilt in Paris als eine Schlüsseltechnologie für eine CO2-freie Wirtschaft. Deutschland ist zwar gegen eine Aufnahme der Kernkraft, hat sich allerdings für die Stromerzeugung aus Gas als notwendige Übergangstechnologie hin zur Klimaneutralität ausgesprochen. Die soll in Europa bis zum Jahr 2050 erreicht sein. Auch durch den rasanten Anstieg der Energiepreise in den vergangenen Monaten hatte die Diskussion um die Zukunft der Atomkraft an neuem Schwung gewonnen.

Für Unmut in der Berliner Ampel-Koalition sorgte in den vergangenen Tagen, dass Bundeskanzler Olaf Scholz versuchte, die Lage zu beschwichtigen. Der Kommissionsvorschlag sollte „nicht überschätzt werden“, sagte er am Rande des EU-Gipfels Mitte Dezember und nannte die Taxonomie „ein kleines Thema in einer ganz großen Frage“. Er verwies darauf, dass die Mitgliedsländer auch künftig alleine über ihren jeweiligen Pfad in eine emissionsfreie Zukunft entscheiden könnten. Es bleibe dabei, dass in Deutschland 2022 das letzte Atomkraftwerk abgeschaltet werde. Scholz wird von Kritikern vorgeworfen, die Taxonomie schlicht „durchgewunken“ zu haben, da Deutschland bei der Energieversorgung auf Jahre hinaus noch auf Gaskraftwerke angewiesen ist.

Scharfe Kritik aus dem Europaparlament

Scharfe Kritik kommt auch aus dem Europaparlament. Dort sehen die Umweltschützer ihre größten Befürchtungen bestätigt. „Kommissionschefin Ursula von der Leyen zerstört mit diesem Vorschlag die Glaubwürdigkeit des europäischen Ökosiegels für Finanzinvestitionen“, empört sich Michael Bloss, klimapolitischer Sprecher der Grünen im EU-Parlament. Er spricht von einem „Etikettenschwindel“, da Atomkraft und Gas „mit diesem Vorschlag auf eine Stufe mit Sonnen- und Windkraft gestellt“ werden. „Das ist absurd“, urteilt Bloss. Auch den Zeitpunkt der Veröffentlichung hält der Grünen-Politiker für einen „Witz“. „Der Entwurf scheint der Kommission unangenehm zu sein, denn damit wird das Glanzprojekt des Green Deals unterminiert.“ Bloss zweifelt inzwischen daran, ob es die Kommission wirklich ernst meint mit dem Klimaschutz.

Die Taxonomie wird nun Mitte Januar dem Europaparlament als Rechtsakt präsentiert werden. „Wenn die EU-Kommission ihren Vorschlag erst einmal vorgelegt hat, bräuchte es unter den EU-Mitgliedsstaaten eine sogenannte qualifizierte Mehrheit, um das Vorhaben noch zu stoppen“, erklärt Michael Bloss und macht wenig Hoffnungen, dass das gelingen könnte. „Das ist praktisch aussichtslos.“