Stadtdekan Christian Hermes Foto: Lichtgut/Achim Zweygarth

Das Coronavirus ist keine Strafe Gottes. Solche Gedanken hält Stadtdekan Christian Hermes für „gefährlich“. Auch Bundestrainer Joachim Löw ist aus seiner Sicht auf einem Holzweg.

Stuttgart - Das Coronavirus ist keine Strafe Gottes. Solche Gedanken hält Stadtdekan Christian Hermes für „gefährlich“. Auch Bundestrainer Joachim Löw ist aus seiner Sicht auf einem Holzweg.

Herr Hermes, erlebt die Kirche in diesen Tagen, die von Ängsten und Sorgen geprägt sind, eine neue Bedeutung für die Menschen?

Manche erinnern sich nun wirklich, welche Bedeutung Religion und Kirche hat. Ich will das aber nicht überbewerten. Es ist ein bisschen so, wie wenn man jetzt sagt: Jetzt müssen wir den alten Onkel auch mal wieder anrufen. Natürlich fragen sich Menschen nun: Wie geht es weiter? Denn unsere schöne funktionierende Welt hat sich als sehr verletzlich erwiesen.

Ist Religion in dieser kognitiven Überforderung im Umgang mit der Pandemie nun Opium fürs Volk?

Es geht auch um eine soziale Überforderung. Und hier kommt die Religion ins Spiel. Ich glaube, dass Religion psychisch widerstandsfähiger und stabiler macht. Auch weil wir sonst eine Quasi-Religion von Leistung, Erfolg und Konsum haben – und die funktioniert jetzt gerade ganz schlecht. Aber den Begriff Opium fürs Volk würde ich zurückweisen: Denn das Christentum sediert jetzt nicht, sondern aktiviert. Wir sind angenommen, auch in den schlimmsten Krisen. Genau das feiern wir jetzt an Ostern. Aber das soll auch zu Nächstenliebe und Solidarität anregen. Und nichts brauchen wir in diesen Zeiten mehr.

Nach der Krise wird gefeiert

Überdauert diese Solidarität die Krise? Fallen wir in alte Muster zurück?

Ich denke, dass Menschen nach der Krise erst einmal das Leben feiern. Das ist gut so. Ich hoffe, dass sie in Erinnerung behalten, wie sehr wir aufeinander angewiesen sind.

Das öffentliche Leben steht still – und doch ist es so rege wie nie? Anders gesagt: Es erwachsen Kreativität und Flexibilität – auch in der Kirche. Welche Schlüsse ziehen Sie daraus?

Wir machen alle gerade einen Riesensprung. Nicht nur, weil wir alle lernen, mit digitalen Medien umzugehen. Auch weil die Kirchen eine erstaunliche Kreativität entwickeln. Ein Beispiel: Wir geben Anleitungen, wie die Leute zu Hause Gottesdienst feiern können. Aha, es gibt also nicht nur den Gottesdienst in der Kirche, sondern das, was man ganz am Anfang Hauskirche genannt hat. Ich hoffe, dass etwas von dieser Vielfalt bleibt.

Was kann die römisch-katholische Weltkirche aus diesen existenziellen Fragen, die sich nun allen Menschen stellen, grundsätzlich lernen?

Manche theologische Diskussion erscheint im Lichte so einer Krise wirklich als Glasperlenspiel. Aber andere theologische Diskussionen erscheinen erst recht notwendig.

Woran denken Sie?

Gerade wurde weltkirchlich über Amazonien gesprochen, und dass da nur selten der Pfarrer in einer Gemeinde vorbeikommt und die Sakramente spendet. Den Rest des Jahres wird alles von den Laien gedeichselt. Nun haben wir eine ähnliche Situation. Es dürfen öffentlich keine Messen gefeiert werden. Plötzlich stellt sich weltweit die Frage, wie in so einer Notlage Kirche bestehen kann, die ja aus den Sakramenten lebt.

Hände desinfizieren und beten

Menschen beten weltweit zu bestimmten Stunden gemeinsam – welche Kraft steckt dahinter? Was bringt Beten überhaupt?

Erst einmal muss ich festhalten: Das Beten wirkt nicht direkt antiviral. Wir beten das Coronavirus nicht weg. Wichtig ist indes die seelische Stärkung durch das Gebet und die Gemeinschaft. Wer alleine in der Wohnung sitzt und weiß, ich bin jetzt mit hunderten Millionen verbunden, die jetzt auch die Karwoche feiern, stärkt das. Daher lautet meine Empfehlung: Hände desinfizieren und beten – ora et desinfice!

Bestimmt werden sie gerade oft gefragt, ob diese Pandemie wie einst die biblischen Plagen eine Strafe Gottes sei. Was antworten Sie?

Das entspricht nicht dem Evangelium und ist gefährlich. Was mahnt sich jemand an, so etwas zu behaupten. Mit solchen Drohungen Angst zu verbreiten? Das ist eine gefährliche Instrumentalisierung von Religion, weil sie auf ein Sündenbockdenken rausläuft. Ich glaube nicht an einen Gott, der manchen den Coronavirus an den Hals wirft und seinen Lieblingen Glück oder Wohlergehen zukommen lässt. Das ist unchristlich, ja geradezu heidnisch.

Bundestrainer Joachim Löw glaubt, dass die Natur sich nun wehre? Kann man es so sehen?

Nein, die Natur ist kein handelndes Subjekt. Da steckt kein Wille dahinter. Das ist ja so unerträglich, dass so ein Virus so ziemlich das Bedeutungsloseste ist, nicht einmal ein Lebewesen. Aber wir bekommen zu spüren, dass uns unser hochmobiler Lebensstil, ich sage nur Ischgl, und das globale Wirtschaftssystem anfällig und angreifbar machen.

Im Moment üben alle Verzicht. Verzichten oder Fasten ist eine gute christliche Tradition. Was erfährt man dadurch – über sich, die Welt und Gott?

Zum Beginn der Fastenzeit hören wir jedes Jahr: Faste, gib Almosen, bete, aber mach kein trauriges Gesicht, mach kein Theater und gehe in deine Kammer. Und der Herr wird’s dir vergelten. Jetzt werden wir ganz unfreiwillig in unsere Kammer verwiesen. Diese Zwangsreduktion ist eine Chance, Nächstenliebe, Solidarität und die Frage nach dem Lebenssinn in den Blick zu nehmen. Für mich ist das nun das existenziellste Osterfest überhaupt. Denn wir feiern an Ostern nichts Anderes, als dass es um Leben und Tod geht.

Wie ist es, einsam Gottesdienst zu feiern?

Nicht gut, aber besser, als gar nicht Gottesdienst zu feiern. Es geht auch nicht um meine Befindlichkeit, sondern einfach darum, dass die Feier des Gottesdienstes, insbesondere der Heiligen Messe, zum Kern meines priesterlichen Amtes und Dienstes gehört. Gott braucht keinen Gottesdienst, aber wir brauchen ihn. Zur Not halt nur „gestreamt“.

Gehen Priester und Seelsorgerinnen noch ans Sterbebett von Menschen?

Ja, natürlich und immer unter Beachtung der Sicherheitsregeln. Es gibt ein verfassungsmäßiges Recht auf Seelsorge zum Beispiel im Krankenhaus, und im Infektionsschutzgesetz ist sogar verankert, dass selbst unter Quarantäne ein Seelsorger zugelassen werden muss, wenn ein Kranker dies wünscht. Natürlich muss man vernünftig sein, und, wie gesagt, gibt es heute auch Telefon oder andere Mittel des Kontakts. Wenn zum Beispiel die Sterbesakramente erbeten werden und wenn es irgend geht, werden wir da sein.

Wie können die Menschen in diesem Jahr auf eine gute Weise Ostern feiern?

Abgesehen von der Möglichkeit, über Internet oder Fernsehen an Gottesdiensten teilzuhaben, werden wir gerade schmerzlich, aber vielleicht auch heilsam an die Anfänge unserer Kirche erinnert. Da heißt es in der Apostelgeschichte (Anm. d. Red. Apg 2,46): „Sie brachen in ihren Häusern das Brot und hielten miteinander Mahl in Freude und Einfalt des Herzens.“ Da gab es noch keine großen Kirchen, die Kirche war einfach zuhause. Und die sich da trafen, konnten auf das Wort Jesu vertrauen: „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen.“ (Anm. d. Red. Mt 18,20)