Beim Delphi-Kino in Stuttgart reagiert man mit Humor auf die bereits zweite erzwungene Schließung wegen der Corona-Pandemie. Foto: imago/Arnulf Hettrich

Über ein Jahrhundert lang waren Lichtspieltheater kulturelle Zufluchtsorte für Erlebnishungrige. Nun sind sie ernsthaft bedroht.

Stuttgart - Man kann eine Erzählung über die Qualitäten des Kinos kaum anders beginnen als mit dem Schriftsteller Franz Kafka und dessen legendärem Tagebucheintrag aus dem Jahr 1921: „Im Kino gewesen. Geweint.“ Mehr als 100 Jahre lang gab es für Menschen kaum eine größere Überwältigungserfahrung, als sich vor der großen Leinwand von monumentalen Bewegtbildern – und bald auch Klängen – umfangen zu lassen.

Im Kino fallen die Abstraktionen der Bühne weg, die Zuschauer tauchen ein in Spiegel des richtigen Lebens. Sie lachen, weinen, bangen und leiden mit den Heldinnen und Helden auf der Leinwand und gehen mit durch deren Dramen. Am Ende verlassen Kinogänger den Saal mit dem erhabenen Gefühl, die Abenteuer von Robin Hood, Harry Potter und dem Cafébesitzer Rick in „Casablanca“ mit bestanden zu haben.

Die Suche nach der perfekten Illusion

Dieses Gefühl stellt sich viel eher ein, wenn man konzentriert am Stück schaut, was im Kino immer der Fall ist. Zuhause dagegen verleiten Mitbewohner, das Mobiltelefon oder der Kühlschrank zu Unterbrechungen. Selbst aufs stille Örtchen geht man im Lichtspieltheater nur zur größten Not, um ja nichts Wichtiges zu verpassen.

Zur Geschichte des Kinos gehörte immer auch die Suche nach der perfekten Illusion. Die Einführung von Ton- und Farbfilm stellten Quantensprünge dar, 70-Millimeter-Film und Cinemascope waren Versuche, die Möglichkeiten der Leinwand ausreizen. Der Anspruch des Publikums wuchs mit von „Citizen Kane“ (1941) über „2001: Odyssee im Weltraum“ (1968) und „Star Wars“ (1977) zu „Titanic“ (1998). Mit der Computer-animierten „Toy Story“ (1995) begann ein neues Trickfilmzeitalter, digitale Effekte im Spielfilm machten um die Jahrtausendwende nahezu alles möglich – die Filmreihen „Der Herr der Ringe“ (2001-2003) und „Harry Potter“ (2001-2011) markieren einen vorläufigen Endpunkt, nachdem die 3D-Projektion sich nicht durchsetzen konnte.

Heimkino-Anlagen sind das kleinere Problem

Das Kino hat schon manche Konkurrenzkrise überlebt. Übers Fernsehen etwa sagte der französische Regisseur Jean-Luc Godard: „Im Kino hebt man den Kopf, beim Fernsehen senkt man ihn.“ Als erste echte Herausforderung erweist sich nun dieselbe digitale Technik, die die perfekte Illusion ermöglicht hat: Riesige, gestochen scharfe Flachbildschirme und ausgeklügelte Heim-Klanganlagen haben eine neue Erlebnis-Qualität in die Wohnzimmer gebracht. Streamingdienste und Mediatheken machen Bewegtbilder jederzeit verfügbar. Wem Kino-Nebensitzer ein Graus sind, die Popcorn mahlen oder Filme sprachlich begleiten, ist nun erlöst.

Dazu kommt die Qualität der Kinofilme. Seit die Studios Projekte mit Algorithmen rein auf Erlös hin konzipieren, gibt es bei ihnen kaum noch Raum für Filmkünstler. Christopher Nolans „Tenet“ war 2020 ein rares Blockbuster-Original, sonst hätten die Kinos – ohne Corona – Dauerbrenner („James Bond“) bekommen, Fortsetzungen („Top Gun 2“), Superhelden-Fortsetzungen („Wonder Woman 2“) und Remakes („Mulan“). Im Streaming dagegen herrscht kreative Freiheit, längst auch beim Spielfilm: Netflix lockte jüngst Ron Howard („Hillbilly Elegy“) und George Clooney („The Midnight Sky“), Apple+ Sofia Coppola („On the Rocks“).

Bei den Oscars 2021 wird Netflix womöglich mehr Nominierungen für beste Filme erhalten als alle Studios zusammen. Wollten diese die Kinos retten, müssten sie eine Warnung des großen Charlie Chaplin beherzigen: „Filmemacher sollten bedenken, dass man ihnen am Tag des Jüngsten Gerichts all ihre Filme wieder vorspielen wird.“