Ein wenig Melancholie befällt Ralf Helmreich im seit Monaten leeren Saal der Obertürkheimer Kinothek. Foto: Mathias Kuhn

Seit vier Jahrzehnten zeichnet sich Ralf Helmreich für die Obertürkheimer Kinothek verantwortlich. Im Interview spricht er über die Sorgen, aber auch über die Zuversicht der Lichtspielhäuser in Zeiten der Pandemie.

Obertürkheim - Seit Oktober haben die Kinos bereits wieder geschlossen. Ralf Helmreich zeichnet seit vier Jahrzehnten für das Obertürkheimer Programmkino verantwortlich. Der zweite Lockdown erscheint ihm fast surreal. Er macht sich Sorgen, wie sich die Zwangspause auf die Kinokultur auswirken wird. Der Kino-thek-Betreiber ist sich aber sicher, dass die Faszination eines Kinobesuchs nicht totzukriegen ist.

Herr Helmreich, seit Monaten läuft hier kein Film mehr. Wie fühlt sich das an?

So ganz stimmt dies nicht. Zu Wartungs- und Testzwecken sind die Systeme immer wieder für Stunden hochgefahren. Bei den Gefühlen gibt es die persönliche und die geschäftliche Ebene.

Und wie wirkt sich der Lockdown wirtschaftlich aus?

Unser Haus ist seit Jahrzehnten in Familienhand. Das ist ein großes Plus. Dennoch laufen die Fixkosten weiter, die Monat für Monat auflaufen, ohne dass wir Einnahmen haben. Unterstützung vom Staat ist zwar eine Hilfe, aber für viele Kinobetreiber nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Seit einem Jahr befinden wir uns im Lockdown oder durften nur unter den Corona-Beschränkungen Vorstellungen anbieten. Zwei Säle mit 120 und 53 Plätzen nur mit maximal 35 und 15 belegen zu können, macht nicht viel Lust. Und es ist nicht rentabel. Dabei sind viele Kinos mit effektiven Lüftungsanlagen ausgestattet. Untersuchungen haben gezeigt, dass sich niemand bei einem Kinobesuch infiziert hat. Kinos haben Hygiene-/Abstandsregeln vorbildlich umgesetzt. Wir haben viel in Schutzmaßnahmen investiert, haben aber seit Monaten keine Einnahmen. Irgendwann sind die Reserven aufgebraucht. Wir hoffen, dass wir bald wieder Filme zeigen dürfen.

Wie trifft Sie der Lockdown persönlich?

Das Gefühl ist zwiespältig. Lust und Frust und Leidenschaft wechseln sich ab. Der Kinobetrieb hat seit Jahrzehnten meinen Alltag bestimmt. Ich musste immer auf dem Laufenden sein, heißt, nah dran sein am Publikum und seinen Wünschen, an der Programmausrichtung, an Sonderveranstaltungen. Je länger der Lockdown dauert, desto mehr realisiere ich, dass der Bezug zum Kino ein Stück weit verloren geht. Zudem fehlt der Kontakt zum Publikum und der Austausch mit den Kinobesucherinnen und -besuchern. Gleichwohl ist das Erlebnis Kino bei einem Testlauf, wenn die Bilder über die große Leinwand flimmern, sofort zurück. Dies weckt die Sehnsucht, endlich für Filmliebhaber da sein und ihnen Filme zeigen zu dürfen.

Wie wirkt sich die Krise auf die Kinolandschaft aus? Was sagen die Kollegen?

Die Kinos kämpfen alle mit ihren unterschiedlichen Sorgen. Wesentlich sind Miet-/Pachtverhältnisse und laufende Kosten, die nicht unendlich aufgefangen werden können. Trotzdem sind wir sehr zuversichtlich. Neue Filme werden kommen, vieles wurde verschoben, vieles wird wieder zu sehen sein. Für uns im Bereich der Filmkunst ist das Angebot breit gefächert. Wir sind nicht zwingend auf ganz große Publikumsfilme angewiesen. Die Verleih- und Filmtheaterbranche tendiert zu einem späteren Wiedereröffnungstermin. Nur ein angemessener werblicher Vorlauf mit allen Bundesländern macht für die Filmverleiher Sinn, um ihre Filme groß herausbringen zu können. Sorge bereitet, was mit Kinofilmen derzeit passiert: Verschoben, gestrichen, für einen Neustart geplant oder per Streaming verheizt. Im letzteren Fall ist das sehr bedenklich, denn eine Diskussion im stillen Kämmerlein ist für mich keine vernehmbare, öffentlich-gesellschaftliche. Das hat eine beängstigende Dynamik. Kinos sollten der Erst-/Originalschauplatz für den Film bleiben.

Wie groß ist die Unterstützung des Publikums?

Wir erfahren großen, auch persönlichen Zuspruch. Unsere Crowdfunding-Aktion auf der Seite „startnext“, die sieben Kinobetreiber aus Stuttgart und der Region Ende Januar unter dem Motto „Kino soll leben“ gestartet haben, ist sehr erfolgreich. Ein großes Dankeschön an alle Unterstützer. Wir haben uns mit diesem Aufruf zum Einen zum Ziel gesetzt, Spenden für den Erhalt der Kinos zu sammeln. Hauptsächlich wollten wir damit aber einen Akzent setzen und die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf die Situation der Kinobranche lenken.

Wie war die Resonanz?

Beeindruckend. Innerhalb von wenigen Tagen nach dem Aufruf war das gesteckte Crowdfunding-Ziel von 26 000 Euro – also 1000 Euro pro Kinosaal – erreicht und wurde nun ausgeweitet. Die Spendenmittel werden in die Technik, in die Einrichtung der Lichtspielhäuser und Instandhaltung gesteckt werden. Uns geht es um den Fortbestand der Kinohäuser.

Sie schauen also trotz allem zuversichtlich in die Zukunft?

Wir benötigen vermutlich Geduld, bis die Bürgerinnen und Bürger wieder in der gewohnten Zahl ins Kino kommen. Aus Mails weiß ich, dass viele sich auf ihren ersten Besuch wirklich freuen und wie Kino vermisst wird. Das Flämmchen der Kinobegeisterung wird zunächst klein brennen. Wer aber weiterhin ein gutes Filmprogramm anbietet und die Botschaften der Menschen an das Kino hört, wird bestehen.

Das Kino stirbt also nicht wegen der Streamingdienste?

Nein. Kino wurde oft totgesagt. Kino wird bestehen bleiben: Die Menschen sind soziale Wesen, sie wollen rausgehen, sich in angenehmem Ambiente treffen, gemeinsam und nicht im eigenen Wohnzimmer unvergessliche Filmmomente erleben, Gefühle miteinander teilen, über den Film sprechen und danach vielleicht noch etwas trinken oder essen gehen. Die Begegnung mit Kultur, mit Film, mit Menschen ist immer auch ein Spiegel, der uns selbst vorgehalten wird und aus der wir bestenfalls ein Stück mitnehmen können in den Alltag.

 

Das Interview führte Mathias Kuhn