Das Kind spielt „Herr der Ringe“. Leider nicht nur an den dafür vorgesehen Ringen, sondern auch an dem, den der Vater in der Nase trägt. Foto:  

Ein bisschen Schmerz und etwas freundliche Körperverletzung. Kleinkinder gestalten ihren Spaß und Alltag gelegentlich etwas ruppig, weiß unser Kolumnist Michael Setzer – und pflegt jede seiner neuen Schrammen.

Stuttgart - Dieses „Eltern sein“ heißt ja auch, zu lernen. Jeden Tag. Eine überhaupt nicht repräsentative Umfrage belegt, dass das noch nie geschadet hat: Schlauer werden, etwas lernen. Auch wenn’s manchmal schmerzhaft ist. Einige arbeiten sich derzeit an den ganz großen Themen ab, doch für die Weltverschwörung bin ich intellektuell noch nicht reif. Ich versuche mich an den kleinen Schritten.

Vor einigen Jahren schmunzelte ich, weil eine Punkerfreundin, die einst sehr viele Piercings im Gesicht spazieren trug, diese kurz nach ihrer Mutterschaft vollkommen entsorgte. Nix mehr: Blech im Gesicht.

Ich: „Aha! Wir werden jetzt also seriös! Richtig erwachsen.“

Und weil ich so überzeugt von meiner Einschätzung war, habe ich sogar vergessen, was sie damals geantwortet hatte. Nun im Jahr 2020 möchte ich bekannt geben: Hab’s geblickt. Ich weiß, was es mit ihren Piercings damals auf sich hatte.

Nicht ins Gesicht fassen!

Noch immer gilt: Man möge sich nicht unkontrolliert ins Gesicht fassen. Wegen Corona und so weiter, Sie wissen schon. Die gute Nachricht: ich mache das eh nur noch selten selbst, ich lasse mir lieber ins Gesicht fassen. Vom Einjährigen.

Der hat Spaß daran und es gehört längst zu unserem Tagesgeschäft. Er reißt mir die Brille von der Nase, piekt mich ins Auge, zieht mich am Bart, an der Backe, an der Nase und – ja, „aber Hallo!“: er findet meinen Nasenring ziemlich spitze. Gleich mal dran ziehen. Aua.

Der Nasenring als Souvenir

Den Nasenring habe ich seit grob 25 Jahren und ich möchte ihn nicht entfernen – ein Souvenir aus Seattle, da bin ich ein bisschen nostalgisch. Auch weil dort damals nur in einem schwullesbischen Zentrum gepierct wurde – niemand sonst machte das. Die Piercerin hieß Lisa Lechner, sie war recht rustikal, eine dieser Latzhosen-Lesben, mit denen man gerne Bier trinken und die Musik von Bikini Kill oder The Gits hören würde.

Lustig war sie auch: Während sie beim Piercen gerade die Nadel durch meinen Nasenflügel stach, hat das Telefon geklingelt, sie ließ mich mit der Nadel in der Nase liegen und ging ans Telefon. Später nannte sie mich „Darling“ und sagte, dass Männern ein bisschen Schmerz ja wohl nicht schaden würde.

Man vergisst so leicht

So ein Nasenring ist trotz aller Nostalgie auch ein bisschen, wie ein Vegetarier zu sein: Man vergisst das in schöner Regelmäßigkeit. Ist ja eigentlich ganz einfach: Ich esse keine Wurst und Co. und kaufe deshalb auch nichts dergleichen. Ende der Geschichte. Das muss man ja nicht allzu episch thematisieren. Ab und an fällt mir dann wieder auf: „Ach, huch. Ich bin ja Vegetarier, voll gut!“.

Oder eben: „Aua. Mist, ich habe ja einen Nasenring!“ – einen, an dem gerade ein lachender Einjähriger hängt, weil das ja auch ein bisschen lustig ist, dass ich da einen Ring im Nasenflügel trage.

Ich: „Aua! Bitte nicht da dran rumöddeln, das tut weh“

Er: „Da ba biu ba mampe ha!“

(Übersetzung: „Okee, dann haue ich dir erst mal die Brille von der Nase und strecke dich anschließend mit einem Kopfstoß nieder. Und: Was heißt eigentlich öddeln?“)

Er lacht. Und wenn’s nicht schon Millionen Gründe gäbe, den Kleinen zu lieben. Ich liebe ihn eben auch dafür, dass er einfach lacht, während er das genaue Gegenteil von dem tut, was ich ursprünglich angeraten hatte. Punk ist das. Er lacht und packt mir schon wieder mitten ins Gesicht.

Den Nasenring habe ich noch immer nicht entfernt. Dafür neu im Angebot: drei Schrammen im Gesicht, sie werden bald heilen, aber die lustige Seite meines Herzens nie verlassen. Es ist schön, wie er mich schlägt.

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Michael Setzer ist vor über einem Jahr Vater geworden. Früher haben Eltern ihre Kinder vor Leuten wie ihm gewarnt. Niemand hat ihn vor Kindern gewarnt. Er schreibt im wöchentlichen Wechsel mit seiner Kollegin Lisa Welzhofer, die sich in ihrer Kolumne „Mensch, Mutter“ regelmäßig Gedanken übers Elternsein, über Kinder, Kessel und mehr macht