Soldaten patrouillieren in Marseille vor der Basilika Notre Dame. Die südfranzösische Metropole wird seit Monaten erschüttert von Bandenkriegen mit vielen Toten. Foto: AFP/SYLVAIN THOMAS

In der südfranzösischen Stadt blüht der Drogenhandel. Im Kampf um die Vorherrschaft werden die Clans immer brutaler. Morde sind fast an der Tagesordnung.

Paris - Jeder in La Castellane kennt Zinédin Zidane. Der Fußballweltmeister ist in dem bitterarmen Stadtviertel im Norden von Marseille aufgewachsen und steht im Mittelpunkt vieler ausufernder Geschichten. Mit leuchtenden Augen erzählen die Kinder in den Straßen von ihrem großen Idol. „Zizou“ hat den Sprung aus der Hoffnungslosigkeit geschafft, im Gegensatz zu den meisten Menschen, die in den schäbigen Hochhäusern wohnen und sich mit Gelegenheitsjobs durchs Leben schlagen. Die Arbeitslosigkeit in La Castellane und den angrenzenden Stadtvierteln von Marseille ist so hoch wie kaum irgendwo in Frankreich, ebenso die Kriminalität.

Prostitution und Drogenhandel blühen

Neben der Prostitution und dem Geschäft mit Waffen blüht der Drogenhandel. Immer wieder kommt es dazu, was in Frankreich etwas verharmlosend „règlements de comptes“ (übersetzt: Das Begleichen von Rechnungen) genannt wird, längst aber zum blutigen Bandenkrieg geworden ist. Nun hat eine solche „Abrechnung“ wieder drei Menschen das Leben gekostet. Zwei Männer seien erschossen und ein dritter tot in einem ausgebrannten Auto entdeckt worden, teilte die Staatsanwaltschaft von Marseille mit. Die Taten folgen nur drei Tage nach einer Sturmgewehrattacke auf einen Drogenverkaufspunkt vor einer Hochhaussiedlung, bei der ein 14-Jähriger starb und ein Achtjähriger verletzt wurde.

Die Brutalität der Angreifer kennt inzwischen keine Grenzen mehr. Die Polizei berichtet, dass bei der jüngsten Attacke zunächst mehrere Männer aus zwei Autos heraus mit Sturmgewehren und Pistolen wie wild auf zwei Männer geschossen hätten, die auf einer Mauer saßen. Kurz darauf wurden die Beamten über die Entführung eines 27-Jährigen informiert. Das Opfer wurde später von Kalaschnikow-Schüssen durchsiebt im Kofferraum eines ausgebrannten Autos entdeckt. „Alle Opfer waren wegen Drogengeschäften bereits polizeibekannt“, erklärte ein Fahnder nach der Blutnacht. Erst im Juli dieses Jahres starben bei den Bandenkriegen sechs Menschen in nur zwei Wochen.

Mehr Polizei gegen die Kriminalität

„Es gibt eine Neuzusammensetzung der Machtverhältnisse im Drogenhandel“, erklärt Frédérique Camilleri, Polizeichef von Marseille, das Aufflammen der Brutalität. „Wir müssen diese Gewaltdynamik durchbrechen.“ Zu diesem Zweck wurden mehrere mobile Polizeieinheiten in den Stadtvierteln stationiert, in denen die Spannungen besonders groß sind.

Ein Streifenbeamter im Viertel mit dem poetischen Namen Les Rosiers (Rosenbüsche) bestätigt, dass die Situation im Moment nicht gut sei, doch er erklärt viele Erzählungen für übertrieben. Berichte über Straßen, in die sich Taxifahrer oder auch die Feuerwehr nicht hinein trauten, seien schlicht falsch. Auch die Polizei sei überall präsent. Er und seine Kollegen würden viele Dealer persönlich kennen, aber diese kleinen Fische seien nicht das Problem. Die hätte oft selbst keine Ahnung, wer die Hintermänner seien oder wo die großen Drogenmengen lagerten. Das sei wie bei einem großen Unternehmen, in dem die kleinen Arbeiter den obersten Boss nie zu Gesicht bekommen. Auch sei es sinnlos, die Dealer zu verhaften, erklärt der Polizist. Die seien meist minderjährig und tauchten kurz darauf an einer anderen Ecke wieder auf.

Die Drogenbosse beherrschen die Stadt

Gérald Pandelon ist der Überzeugung, dass es in Marseille eine Veränderung in den Geschäftsbereichen gegeben habe. Das schreibt der Anwalt in seinem Buch über diese dunkle Seite von Marseille mit dem Titel: La France des caïds (Das Frankreich der Gangsterbosse). Inzwischen hätten die Männer aus dem Maghreb die Drogengeschäfte in der Hafenstadt vollständig übernommen. Deren Netz ziehe sich über ganz Frankreich, Marseille sei nur so oft in den Schlagzeilen, weil es dort viele verschiedene Clans gebe.

Jüngst war angesichts der Vielzahl von Morden sogar der französische Innenminister Gérald Darmanin in Marseille, um sich über die Lage informieren zu lassen und Tatkraft zu zeigen. Schon im Frühjahr hatte der als Hardliner bekannte Politiker 300 Polizisten als Verstärkung für die Kommissariate vor Ort versprochen, die zusätzliche Drogenrazzien durchführen sollten. Im August wagte Darmanin sogar, von einem Sieg über den Drogenhandel zu sprechen. In ganz Frankreich seien 8000 Dealer verhaftet, außerdem 57 Tonnen Cannabis beschlagnahmt worden und neun Tonnen Kokain, rechnete er vor. Der Triumph war allerdings von kurzer Dauer, in den Wochen danach beherrschten schnell wieder die blutigen Bandenkriege in Marseille die Schlagzeilen.

Die Polizisten, die in den Straßen von Marseille Dienst tun, sind in ihrer Einschätzung wesentlich zurückhaltender. Es gehe nicht darum, den Drogenhandel zum Erliegen zu bringen, sagt ein Beamter. So lange die Nachfrage bestehe, würden Drogen verkauft. Ziel könne es allenfalls sein, den Clans die Machtverhältnisse im Staat klar zu machen und sie ständig unter Druck zu setzen. Damit sei schon viel gewonnen.