Der Präsident des Oberlandesgerichts Stuttgart, Andreas Singer, im Interview über juristischen Nachwuchs, Gefahren für den Rechtsstaat und das Glück der Freiheit.
Bis 2030 werden mehr als die Hälfte der Richterinnen und Richter in den ostdeutschen Bundesländern in den Ruhestand gehen. Auch in Westdeutschland steigt die Pensionierungsquote in den kommenden Jahren an. Der Präsident des Oberlandesgerichtes Stuttgart, Andreas Singer, nimmt den Juristennachwuchs in den Blick und mahnt, sich den Wert der Freiheit und des Rechtsstaates bewusster zu machen.
Herr Singer, wie bedrohlich ist die Pensionierungswelle für den Rechtsstaat?
Die Lage ist ernst. Die Pensionierungswelle im Osten hat Auswirkungen auf alle Bundesländer. Unsere Justiz hat einen riesigen Nachwuchsbedarf, der auf immer weniger Examensabsolventen trifft. Freiwerdende Richterstellen gut zu besetzen, ist schon heute eine große Herausforderung. Mit der Pensionierungswelle wird sich das Nachwuchsproblem weiter verschärfen. Gleichzeitig müssen wir dem Vertrauen der Menschen in eine gute Rechtsprechung auch in Zukunft gerecht werden.
Was heißt das konkret?
Wenn ich einen Rechtsstreit führe und dafür viel Geld, Zeit und Nerven investiere, erwarte ich, dass am Ende eine schnelle, richtige und überzeugend begründete Entscheidung ergeht. Diese Erwartung haben die Menschen zu Recht. Unser Ansatz muss deshalb sein, die besten Juristinnen und Juristen für die Justiz zu begeistern. Der beste Jurist muss auf der Richterbank sitzen und nicht aufseiten der zahlungskräftigsten Partei.
Richter zu werden ist doch eigentlich für viele ein Traumberuf?
Absolut! Wir sprechen frei von jeder Einflussnahme Recht und helfen den Menschen bei der friedlichen Lösung ihrer Konflikte. Aber wenn wir um die besten Köpfe werben, stehen wir in einem immer stärkeren Wettbewerb mit Anwaltschaft und Unternehmen. Auch dort wird händeringend gut ausgebildeter Nachwuchs gesucht. Immer neue Regeln und Gesetze müssen umgesetzt werden. Unternehmen und Verbraucher müssen sich rechtlich absichern. Deshalb locken Kanzleien Berufsanfänger mit Einstiegsgehältern von bis zu 180 000 Euro.
Es sieht so aus, dass das in der Politik bislang nur unzureichend verstanden wird: Die Europäische Kommission mahnt in ihrem jüngsten Rechtsstaatsbericht ausdrücklich an, Richter in Deutschland besser zu bezahlen.
Die Europäische Kommission hat jetzt schon das dritte Jahr in Folge festgestellt, dass die Höhe der Richterbesoldung in Deutschland ein Problem darstellt. Die Jahresbezüge von Richtern zu Beginn ihrer Laufbahn sind im Vergleich zu den Durchschnittsgehältern nach wie vor die niedrigsten in der gesamten Europäischen Union. Die EU-Kommission fordert deshalb ausdrücklich, dass die Besoldung von Richtern ihrem Beruf und ihrer Verantwortung entsprechen muss, um sie vor Druck von außen zu schützen. Danach geht es bei der Frage einer angemessenen Richterbesoldung um die Sicherung der Integrität unseres Rechtsstaats. Ein attraktives Einstiegsgehalt ist aber natürlich auch ein wichtiger Baustein für eine erfolgreiche Nachwuchsgewinnung. Darüber hinaus braucht es ein Bündel weiterer Maßnahmen.
Sie hoffen, durch eine Kooperation Ihres Oberlandesgerichtes mit der Universität Tübingen junge Juristen für den Beruf des Richters zu begeistern.
Mit der Kooperation rückt Rechtswissenschaft und Rechtsprechung enger zusammen. Zum einen wollen wir die wissenschaftliche Exzellenz für die Richterbank gewinnen. Dazu sollen Professorinnen und Professoren der juristischen Fakultät verstärkt als Richter im Nebenamt Recht sprechen. Zum anderen gehen unsere Richterinnen und Richter in die Hörsäle. Die Vorlesungsreihe vermittelt Themen aus dem Kernbereich des Prüfungsstoffs und ist zugleich an der gerichtlichen Praxis ausgerichtet. Wir bringen also die richterliche Perspektive deutlich früher in die Juristenausbildung als bislang.
Warum engagieren Sie sich so?
Der Rechtsstaat ist Grundpfeiler unserer Demokratie und Garant der Rechte jedes Einzelnen. Das Recht ist das Fundament für Freiheit, Sicherheit und sozialen Frieden. Dass diese Werte zunehmend unter Druck geraten, erleben wir gerade schmerzlich. Wir müssen deshalb die Abwehrkräfte unserer freiheitlichen Gesellschaft ausbauen. Dazu brauchen wir eine starke Justiz. Und eine starke Justiz braucht engagierte Persönlichkeiten, die bereit sind, diese gesamtgesellschaftliche Verantwortung zu tragen. Eine Zukunft wird unsere Demokratie nur haben, wenn in Zeiten, in denen der Rechtsstaat herausgefordert wird, junge Menschen bereit sind, sich für das Recht und die Gerechtigkeit einzusetzen.
Sie sagen das in einer Zeit, in der der Rechtsstaat ganz offen angegriffen wird. Auch durch Parteien, die in den deutschen Parlamenten sitzen. Die AfD droht, sich den Neuwahlen von Verfassungsrichtern in den Landtagen zu verschließen und ihre Sperrminorität ausspielen.
Wer die Funktionsfähigkeit eines Verfassungsgerichts zum Spielball seiner parteipolitischen Interessen macht, stellt sich gegen die fundamentalen Werte unserer freiheitlichen Gesellschaft. Er gefährdet den Rechtsschutz der Menschen bei der Durchsetzung ihrer Grundrechte. Es ist die dringende Aufgabe der Länder, ihre Verfassungen so auszugestalten, dass Blockaden einzelner Parteien durch kluge Verfahren aufgelöst werden.
Warum ist das so wichtig?
Weil es nicht egal ist, was in unserer Gesellschaft und mit unserer Demokratie geschieht. Wir müssen uns den Wert unserer Verfassung für unser Leben wieder stärker bewusst machen. Dabei dürfen wir nicht an einzelnen Wahlergebnissen verzweifeln. Im Gegenteil: Wir müssen mit überzeugenden Argumenten und Nachdruck für unsere freiheitlich demokratische Grundordnung eintreten und die Köpfe der Menschen und mehr noch ihre Herzen erreichen.
Welche Aufgabe kommt dabei Richterinnen und Richtern zu?
Sie verhelfen unserem Rechtsstaat in den Gerichtssälen jeden Tag aufs Neue zur Geltung und schützen unsere Verfassung, wann immer diese verletzt wird. Und das müssen wir gerade auch bei unserem Werben um die besten Nachwuchskräfte immer wieder herausstellen. Es sind die Sinnhaftigkeit, unsere Unabhängigkeit und die besondere Verantwortung für unser Gemeinwesen, die das Richteramt ausmachen.