Jean-Luc Godard (1930–2022) Foto: dpa/Christof Schuerpf

Er war einer der großen Neuerer des europäischen Kinos. Nun ist der französische Filmregisseur Jean-Luc Godard im Alter von 91 Jahren gestorben.

Es ist Sommer in Paris. Der Kleinkriminelle Michel Poiccard (Jean-Paul Belmondo) ist in die Stadt gekommen, um Schulden einzutreiben. Auf dem Weg hat er an einem Polizeiposten einen Polizisten umgenietet, weil der ihn kontrollieren wollte. Nun schlendert Michel seelenruhig an den Kinos auf den Champs-Élysées entlang, nuckelt an einem Glimmstängel und mustert die Filmplakate. Als sein Blick das Konterfei eines der größten Männeridole jener Zeit streift, bleibt er stehen. „Bogie“, raunt er anerkennend, und wischt sich mit laszivem Lächeln über die Oberlippe. Eine Geste, die Michel oft wiederholt in diesem Film namens „Außer Atem“, bis heute ein Meilenstein des europäischen Kinos, weil sein Schöpfer, der 1930 in Paris geborene Jean-Luc Godard, alle bis dahin geltenden Regeln filmischer Erzählung auf den Kopf stellte und so eine neue Filmsprache erfand, die unsere Sehgewohnheiten maßgeblich geprägt hat.

„Außer Atem“ ist 1960 nach einigen Kurzfilmen Godards erste Arbeit für die große Leinwand und gleich ein Paukenschlag. Zwar stören sich manche konservative Kritiker am Nihilismus und der Abgebrühtheit des Gangsters, der mit dem amerikanischen Zeitungsmädchen Patricia Franchini (Jean Seberg) eine Liebelei eingeht und am Ende des Films einen schnellen, fast beiläufigen Tod stirbt. Trotzdem wird die Kompromisslosigkeit von „Außer Atem“ seinerzeit auf der Berlinale mit dem Silbernen Bären für die beste Regie gewürdigt.

Legendäre Filmszenen

Legendär ist das Filmpaar, der kühle Jazz, die harten, schnellen Schnitte, die schnodderig-kargen Dialoge und die ungeheure Lässigkeit, mit der Godard inszenierte. Man staunt, wie authentisch dessen Gegenentwurf zur in den 1960ern noch steifen Mehrheitsgesellschaft bis heute wirkt. Stammte Jean-Luc Godard selbst doch aus großbürgerlichen Verhältnissen, mit einem Mediziner als Vater, dem eine Privatklinik in der Schweiz gehörte. Zeitweilig wächst Jean-Luc Godard deshalb auch im schweizerischen Nyon auf, ehe er als 18-Jähriger zurück nach Paris zieht. Als Student der Ethnologie an der Sorbonne trifft er in einem studentischen Filmclub Jacques Rivette, Eric Rohmer und François Truffaut, die späteren Mitbegründer der sogenannten Nouvelle Vague, die überkommene Filmtraditionen in die Tonne warf und in den Filmheften „Cahiers du Cinema“ eigene Vorstellungen formulierte.

Truffaut steuerte zu „Außer Atem“ einen ersten Drehbuchentwurf bei, den er nach der Lektüre eines Zeitungsartikels über einen Polizistenmord geschrieben hatte. Später entwickeln sich Truffaut und Godard trotz der gemeinsamen Anfänge in inhaltlichen und ästhetischen Fragen aber auseinander. Während Truffaut empathische, an sozialen Themen interessierte Werke wie „Sie küssten und sie schlugen ihn“ (1959) oder „Jules und Jim“ (1962) dreht, mausert sich Godard zum politischen Aktivisten mit der Kamera in der Hand.

Meister in allen Genres

Schon mit seinem Spionagedrama „Der kleine Soldat“ (1960) setzte er sich vor dem Hintergrund des Algerienkrieges mit teils radikalen Positionen auseinander. Godard erzählt von Bruno, einem französischen Kriegsdeserteur und Auftragsmörder, der vor dem geplanten Attentat an einem arabischen Agenten zurückschreckt und deswegen selbst ins Fadenkreuz gerät. Der Film enthält nicht nur politische Statements und stimmungsvolle Ansichten des Handlungsortes Genf, sondern auch eine bis heute hart erschütternde Waterboarding-Szene. Der Film wurde umgehend von der französischen Zensur verboten und erst nach Ende des Krieges in Frankreich aufgeführt.

Während Godard in seinen Anfängen die rasante Filmsprache der amerikanischen B-Movies schätzte, kritisierte er schon in „Die Verachtung“ (1963) das Filmbusiness. Nur fünf Jahre später ohrfeigt er sogar den Produzenten seines Films „One plus one“ über die Aufnahme des Rolling-Stones-Songs „Sympathy for the Devil“ und wendet sich ab vom regulären Filmverleih.

Mit „Masculin-Feminin oder: Die Kinder von Marx und Coca-Cola“ (1966) positionierte sich Godard gegen den Kapitalismus, die amerikanische Massenkultur und den Vietnamkrieg. Durch assoziative Szenenfolgen und die häufige Verwendung von Slogans und Texttafeln sind Filme wie „Masculin-Feminin“ oder die komplexe Collage „Die Chinesin“ (1966) über eine sozialistische Kommune immer weniger zugänglich für ein großes Publikum, das an ein konventionell erzählendes Kino gewöhnt ist. Und dennoch: Mit dem fantastisch-verstörenden Science-Fiction-Thriller „Lemmy Caution gegen Alpha 60“ (1965) über eine von einem Computer beherrschte, totalitäre Gesellschaft oder der wilden Gangsterkomödie „Die Außenseiterbande“ (1964) hat der große Regisseur Godard Filme geschaffen, die auch Dekaden später noch wirken.

„Ich will schlafen, ich bin todmüde“, sagt Michel kurz vor seinem Tod in „Außer Atem“. Schwer vorstellbar, dass jetzt auch Michels Schöpfer im Alter von 91 Jahren in seinem Haus in der Schweiz für immer eingeschlafen ist.