Josephine Buller (links) und Uta Smolik bei der Bestandsaufnahme der Ketten und Schmuckstücke. Foto: Kuhn

Zum Jahresende steht für Einzelhandel und Handwerk oft eine lästige Pflicht an: Zählen, Messen, Wiegen – bei der Inventur muss der Bestand ermittelt werden.

Untertürkheim - Zählen, Wiegen, Messen, Vergleichen. Zwischen Weihnachten und dem Jahresbeginn, wenn viele Arbeitnehmer es sich in den eigenen vier Wänden gemütlich machen können, steht für Einzelhändler und Handwerker eine meist unliebsame Arbeit an: Inventur. Der Bestand muss erfasst werden – vom größten Gerät bis zur kleinsten Schraube, vom wertvollsten Schmuckstück bis zur wenige Cent teuren Öse, von den Blickfängern im Schaufenster bis zum unbedeutenden Ersatzteil im Lager – alle müssen laut Inventurrichtlinien „körperlich erfasst“ und ermittelt werden. „Der Staat und das Finanzamt wollen schließlich genau wissen, was wir besitzen“, sagt ein Handwerker spöttisch.

Ironie hilft oftmals bei der nervenaufreibenden und ermüdenden „Erbsenzählerei“ und Suche nach einem vermeintlich fehlenden Artikel. In der Fleckensteinbruch-Kelter des Collegiums Wirtemberg haben sich zwei Trupps bestehend aus Collegiums-Mitgliedern zwei Tage vor Heiligabend an die Arbeit gemacht. „Wir gleichen die hier im Keller gefundenen Fässer mit denen auf der Liste unseres Kellermeisters ab. Dabei helfen uns die sogenannten sprechenden Zahlen“, sagt Collegiums-Vorstandsmitglied Markus Nanz. Jedes Fass – egal, ob riesiger Stahltank oder kleines Holzfass – besitzt eine Nummer. Die Nummern 101 bis 599 sind beispielsweise für 225-Liter fassende Eichenholzfässer, 600 bis 799 für die etwas größeren Barriquefässer reserviert. Mit Kreide hat der Kellermeister im Idealfall notiert, welche Weinsorte in den Fässern lagert. Das große Abhaken beginnt: Rüdiger Lebrecht, Dieter Kizler und Mathieu Bubeck bilden ein Dreier-Team. „432 – 2019 Spätburgunder.“ Bubeck nennt Zahl und Wein, der im Fass lagert, seine beiden Mitstreiter haken die Nummer auf der Liste ab. Die Fässer werden – leider – nicht chronologisch gelagert. Auf 432 folgt 531.

Lebrecht und Kizler müssen blättern. Nummer für Nummer, Sorte für Sorte. Es geht eng zu zwischen den Fässern, die sich bis fast an die Decke stapeln. „Stichprobenweise klettern wir bei den großen Fässern hoch und schauen, ob die Tanks auch noch gefüllt sind“, erklärt Nanz. Normalerweise müssen alle bis zum Rand – spuntvoll – voll Wein sein. Die „Schlagzahl“ am Fass gibt das Füllungsvermögen des Tanks an. Auch sie muss abgeglichen werden. Nach fast drei Stunden beginnt das Suchen. „312 und 269 sind verschwunden.“ Die beiden stellvertretenden Kellermeister Kizler und Marcus Dittel laufen die Regale ab und überlegen. „312 ist noch unverpackt und steht an der Wand“, fällt Kizler ein, nach 269 läuft die Fahndung einen Stock höher. Der erste Teil der Inventur ist fast erledigt. Nach dem Silvesterverkauf geht’s weiter: „Anfang Januar müssen dann sämtliche Flaschen gezählt werden, und zwar in den Verkaufsräumen unserer Keltern und in allen Kellern“, sagt Nanz. Eine Sisyphusarbeit.

Mühsam ist es auch für Josephine Buller und Uta Smolik. Die Freundinnen helfen sich bei der Bestandskontrolle. Am Montag starteten die Untertürkheimerinnen die Inventur in Bullers Schmuck & Perlen-Studio in der Augsburger Straße. Goldschmiedin Buller holt vorsichtig einen Teil der Auslage aus dem Schaufenster: Ketten, Ringe, Schmuckstücke. Vor sich haben die beiden Frauen Blätter mit Fotos von Schmuckstücken liegen. „Jedes Schmuckstück, das ich erhalte oder kreiere, wird fotografiert und nach Lieferanten sowie Themen katalogisiert“, erzählt Buller. Ringe stehen unter „Ringe“, alle Perlenketten gehören zusammen und Modeschmuck bildet eine eigene Kategorie. Einfacher wird das Puzzlespiel dadurch nur bedingt. Die Aufgabe lautet: Auf welchem Blatt ist das Foto des gesuchten Schmuckstücks? Eines nach dem anderem haken die Damen ab. „Und wenn das Foto nicht abgehakt ist, muss ich recherchieren, wo es ist oder, ob ich vergessen habe, es auszutragen“, sagt Buller. Damit nicht genug. Auch jede Perle, jeder Edelstein – und sei er auch nur ein Splitter, aber auch jedes Kleinteil muss gezählt werden. „Inklusive der Nacharbeit gehen bei der Inventur gut drei Tage drauf“, sagt Buller.

Im Gegenzug hilft sie auch Uta Smolik in ihrem Brillenfachgeschäft. „Wobei es bei mir etwas schneller geht, da jedes Brillenmodell beim Eingang eine Nummer erhält, anhand der wir sie bei der Inventur wiederfinden und in den Computer eintippen können“, sagt Smolik. Die anschließende Fehlerbereinigung und Abwertung der beispielsweise beschädigten oder älteren Modelle bleibt aber auch Smolik nicht erspart.

Ähnlich ergeht es Untertürkheims Handwerkern. Auch im Autohaus Krautter hieß es – trotz Digitalisierung – am Mittwoch, dem letzten richtigen Werktag des Jahres: Zählen, Vergleichen, jedes Teil in die Hand nehmen und in Listen eintragen. „Acht bis zehn Mitarbeiter sind damit den ganzen Tag beschäftigt. Eine notwendige Pflicht, die aber ein Gutes hat: Gleichzeitig kann auch wieder etwas Ordnung gemacht und manchmal etwas wiedergefunden werden“, sagt Markus Krautter. Frank Eiting von FE Elektroservice pflichtet ihm bei. Dem Chef und seinen Mitarbeitern droht erst im neuen Jahr das große Zählen. „Für unsere Meter langen Kabel und Drähte gibt es ein extra Messgerät, die größeren Ersatzteile werden tatsächlich gezählt, die kleineren gewogen oder die Stückzahlen geschätzt“, sagt Eiting. „Eine Mordsarbeit, aber gleichzeitig wird das Lager sortiert und man hat einen besseren Überblick.“