Wenn Benni in Rage gerät, ist sie kaum zu besänftigen – und die Kinderdarstellerin Helena Zengel verkörpert das erschreckend glaubwürdig Foto: Weydemann Bros./Yunus Roy Imer

Nora Fingscheidts Diplomfilm an der Ludwigsburger Filmakademie dreht sich um ein Kind außer Rand und Band, an dem sich alle Pädagogen die Zähne ausbeißen. Nach einer erfolgreichen Teilnahme am Berlinale-Wettbewerb ist ihr Film nun der deutsche Vorschlag für den Auslands-Oscar.

Stuttgart - Auf der diesjährigen Berlinale bekam Nora Fingscheidt für „Systemsprenger“ den Silbernen Bären (Alfred-Bauer-Preis) und den Preis der Leserjury der Berliner Morgenpost. Unlängst wurde der Film als deutscher Vorschlag für den Auslands-Oscar eingereicht.

Frau Fingscheidt, wenn man mehrere Lebensjahre und sein ganzes Herzblut in einen Film investiert hat, den bisher nur Menschen gesehen haben, die einem ohnehin wohlgesonnen sind, mit was für Gefühlen geht man dann zur Weltpremiere auf der Berlinale?

Ich stand zu diesem Zeitpunkt ein bisschen neben mir. Der Film war erst drei Tage zuvor fertig geworden und ich noch im Arbeitsmodus. Ich bin quasi direkt von der Postproduktion in die Premiere gestolpert und hatte gar keine Zeit darüber nachzudenken, was mich da wirklich erwartet. Mir blieben nur diese drei Tage, um mir ein Kleid zu besorgen und mal richtig durchzuatmen. So richtig übermannt hat es mich erst nachher. Es war tatsächlich etwas ganz Anderes. Plötzlich war der Film Gegenstand der öffentlichen Diskussion und hatte mit mir gar nichts mehr zu tun, weil jeder etwas anderes sieht und interpretiert. Das war ein sehr spannender Lernprozess.

Sie sind im Rahmen Ihrer Recherchen an einen Punkt gelangt, an dem Ihnen die harte Realität zu viel wurde. Stand das Projekt aus diesem Grund auf der Kippe?

Nein, ich habe es nie grundlegend angezweifelt. Aber nach drei Jahren der Recherche gab es ein Jahr, in dem ich komplett Pause gemacht habe. Und das war auch gut so. Durch diese ganzen Fälle und die Intensivrecherchen, bei denen ich in den Institutionen gelebt und mitgearbeitet habe, hatte ich die Distanz verloren. Ich habe gemerkt, dass mir das viel zu nahe geht. Plötzlich sah ich überall nur noch Fälle von Kindesmisshandlung. Es war mir kaum mehr möglich, in der Berliner U-Bahn zu fahren. In der „Systemsprenger“-Pause habe ich einen Dokumentarfilm in Argentinien gemacht, meinen Abschlussfilm. Diese Arbeit hat mich in eine so andere Welt katapultiert, dass ich anschließend mit einem gesunden Abstand weiterarbeiten konnte. Und so ist es dann auch geblieben.

Menno Baumann, ein Spezialist für Intensivpädagogik, hat das Projekt begleitet. Wie wichtig war Ihnen diese Rückversicherung?

Sehr wichtig. Der Film erhebt keinen Anspruch auf dokumentarische Wahrhaftigkeit. Es gibt sehr viele Vereinfachungen und Auslassungen, die der fiktionalen Spielfilmdramaturgie geschuldet sind. Trotzdem wollte ich sehr genau wissen, wann man die Linie überschreitet und wann nicht. Ich wollte nicht danach mit dem Vorwurf konfrontiert werden, das sei alles Blödsinn. Manche Dinge mögen nicht real sein, aber ich weiß exakt, welche.

Wie haben Sie entschieden, was Sie dem Publikum zumuten und was nicht?

Das Drehbuch wurde ja über Jahre hinweg begleitet. Dabei hat man schon gemerkt, welche Entscheidungen richtig und wichtig sind und wann es zu viel wird. Natürlich war auch immer die Frage, was man Helena zumuten kann. Beim Schnitt sind dann noch mal ein paar „Ausraster-Szenen“ rausgeflogen. Einfach weil es zu viel war. Wir haben mit einem Testpublikum ausprobiert, wann es kippt.

Mit welchen Szenen haben Sie die Castings durchgeführt?

Für die allerersten Casting-Runden gab es zwei Aufgaben. Die erste war ein Improvisationsspiel mit einem erwachsenen, männlichen Spielpartner. Die Aufgabe war, den Mann aus dem Zimmer raus zu kriegen. Egal wie, alles ist erlaubt. Du darfst schieben, treten, beschimpfen – was auch immer. Hauptsache, der Typ ist am Ende aus dem Zimmer raus. An dieser Aufgabe hat man schon gesehen, welche Mädchen Spaß daran haben, wem die Situation wahnsinnig unangenehm ist und wer es einfach unheimlich lustig findet, dass jetzt mal Schimpfwörter erlaubt sind. Es kristallisierte sich heraus, mit wem man weiter gehen konnte und bei wem man besser gleich nach dem ersten Take sagte, danke, hast Du gut gemacht und jetzt machen wir etwas anderes. Die zweite Aufgabe war eine ganz ruhige, nämlich ein Gespräch mit dem Anspielpartner. So konnte man die ganze Bandbreite zwischen dieser Extrovertiertheit, der Wut und der Aggression und der Fähigkeit, auch ruhige Szenen zu tragen, erkennen.

Hauptdarstellerin Helena Zengel ist eine Naturgewalt. Aber sie überzeugt nicht nur in den Szenen, in denen sie ausrastet, sondern gerade, wenn sie ehrliche Anteilnahme zeigt oder das liebe Mädchen heuchelt. Wie haben Sie sie geführt?

Wir hatten eine ganz lange Vorbereitungszeit. Sechs Monate vor Drehbeginn haben wir damit begonnen, ein- oder zweimal in der Woche miteinander zu arbeiten. Wir haben mit ganz simplen Dingen angefangen, sind einkaufen gegangen. Dann war Helena bei vielen Erwachsenen-Castings mit dabei, um zu sehen, ob die Chemie stimmt. Dadurch hat sie auch Stückchen für Stückchen Bennis Universum kennengelernt. Aha, das ist die Ärztin. Das ist die Erzieherin, und sie ist ziemlich blöd. Aber die andere Erzieherin ist nett. Nach jeder Probe haben wir Listen gemacht: Wie hat Benni reagiert und wie würde Helena eigentlich reagieren? Dadurch hat sie die Personen nicht durcheinandergebracht. Als wir nach sechs Monaten mit dem Dreh begonnen haben, konnte sie fast schon spielerisch rein und raus aus Bennis Charakter und beides total gut voneinander unterscheiden. Der Dreh war sehr lang, wir hatten 67 Drehtage, das ist etwa doppelt so viel wie bei einem „normalen“ Spielfilm. Die Arbeitszeit mit Kindern ist in Deutschland begrenzt, was ja auch gut ist. Das führte dazu, dass es nicht nur Ausrast-Tage gab, sondern auch mal ruhige oder lustige. Meistens haben wir am Abend vor dem Dreh geprobt, sodass alle wussten, was auf sie zukommt, und dann noch mal eine Nacht darüber schlafen konnten. Helena hat am Set nie irgendwelche bösen Überraschungen erlebt, weil sie immer genau wusste, was passieren würde. Schließlich haben wir noch Tagebuch geführt, eine Seite pro Tag. So konnte sie alles verarbeiten und einordnen.

Inwiefern waren Helenas Eltern involviert?

Helena wohnt bei ihrer Mama, und die war mit mir in regem Austausch. Wir haben ein- oder zweimal täglich telefoniert, und am Wochenende haben sie sich meistens gesehen. Die Mutter war natürlich von Anfang an mit in den Prozess eingebunden. Sie wusste immer genau, was passiert und wo und mit wem die Kleine gerade zusammen ist.

Wie schwer ist es, einen kleinen Menschen, zu dem man ein solches Vertrauensverhältnis aufgebaut hat, anschließend wieder ziehen zu lassen?

Es ging ganz gut. Am Ende war es lang und anstrengend, und Helena hat sich so darauf gefreut, wieder in ihr gewohntes Leben zurückzukommen und ihre Freundinnen aus der Schule wiederzusehen. Bei mir war es eigentlich ganz ähnlich. Ich bin ja auch Mutter und war nach fünf Monaten Dreh erschöpft. Ich wollte zu meiner Familie nach Hause. Wir haben uns dann noch regelmäßig gesehen und tun es auch heute noch. Es ist durchaus eine Freundschaft entstanden, aber es gibt nicht mehr dieses tägliche Miteinander. Das ist ganz entspannt. Erst mal fällt man immer in ein Loch. Die erste Woche nach dem Dreh ist hart. Aber danach pendelt sich alles schnell wieder ein.

Als wie gut oder wie reformbedürftig haben Sie dieses System kennengelernt, das von einigen Kids gesprengt wird?

Ich muss ganz klar sagen, dass ich keine Fachfrau bin. Ich durchdringe die Umstände nicht so, dass ich mich fachlich sinnvoll dazu äußern könnte. Als Nora, die Privatperson, habe ich den Eindruck, dass viele Leute, die im Sozialen arbeiten, ganz schön überlastet sind, was die Zahl von Fällen und Kindern angeht. Und das immer mit dieser Verpflichtung zur bürokratischen Genauigkeit. Da verstehe ich eben die Hintergründe nicht. Muss so eine Frau wirklich sechzig Fälle haben oder neunzig, wenn eine Kollegin krank wird? Kann man so eine Familie überhaupt richtig kennenlernen? Oder warum müssen zwei Erzieher, die sich in einer Wohngruppe um zehn Kinder kümmern, immer noch ständig irgendwelche Zettel ausfüllen? Ein bisschen mehr Geld, ein höherer Personalschlüssel und auch mehr soziale Anerkennung würden Erziehern und Kindern mit Sicherheit helfen. Bei Dr. Menno Baumann im Leinerstift in Ostfriesland, einer Einrichtung für ganz betreuungsintensive Fälle, gibt es Gruppen mit nur drei Kindern. Das kostet natürlich auch verdammt viel Geld. Aber ich glaube, dass das der richtige Ansatz ist.

Glauben Sie, dass Menschen immer als gänzlich unbeschriebene Blätter zur Welt kommen?

Nee. Ich glaube, man bringt schon etwas mit. Man wird auch bereits im Bauch geprägt, wenn eine Mutter zum Beispiel viel Stress oder viel Streit hat. Und dann gibt es einen bestimmten genetischen Anteil, was den Energielevel angeht. Bei Benni wäre es wahrscheinlich egal gewesen, wo sie zur Welt kommt. Ihr Energielevel hätte sie mitbekommen. Unter anderen Umständen wäre sie vielleicht der neue Jimi Hendrix geworden oder eine verrückt-geniale Konzernchefin. Nur hat sie diese Umstände leider nicht gehabt. Ich denke, dass es eine Mischung aus Prägung und Genetik gibt.

Sie wissen schon, dass der zweite Film sehr schwierig wird, wenn das Spielfilmdebüt so einschlägt?

(lacht) Ja, klar! Ich weiß aber auch, dass ich so ein Herzensprojekt jetzt erst mal nicht mehr machen kann. Es war toll, aber es hat wahnsinnig viel Kraft gekostet. Ich widme mich jetzt zunächst einer Art Auftragsarbeit, bei der ich nur den Regie-Job übernehme. Ich bin ziemlich entspannt und neugierig auf den Prozess. Für mich wird eher das nächste Herzblut-Ding das sein, bei dem so richtig großer Druck auf mir lastet.