Sibylle Michalski, hier auf dem Balkon ihrer Wohngemeinschaft, ist seit Anfang 2024 Vorsitzende der Initiative Psychiatrie-Erfahrene Stuttgart. Foto: Lichtgut/Max Kovalenko

Wegen einer psychischen Erkrankung war Sybille Michalski jahrelang in einem Pflegeheim untergebracht – heute wohnt sie weitgehend selbstständig. Nun setzt sich in der Initiative Psychiatrie-Erfahrene für die Rechte psychisch kranker Menschen ein.

„Ich war selber mal Drehtür-Patient“, sagt Sybille Michalski und benutzt dabei einen Begriff, mit dem psychisch erkrankte Menschen bezeichnet werden, die jahrelang von stationären Einrichtungen abhängig bleiben. Im Raum Esslingen sei sie damals psychotisch geworden und da es dort damals keine alternativen Strukturen gegeben habe, die sie hätten auffangen können, sei sie in einem Pflegeheim gelandet – und das sieben Jahre lang.

Die Medikamente hätten sie damals sediert. Das Fachpersonal habe ihr zu verstehen gegeben, dass sie das Heim vermutlich nicht mehr verlassen werde. Dann nahm ihr Partner sie mit zum sogenannten „Treffpunkt Süd“, einer Freizeitgruppe des „Stuttgarter Bürgerkreises zur Förderung seelischer Gesundheit“ für Menschen mit und ohne psychische Krankheitserfahrung. „Dort wurde ich gehört“, sagt Michalski, es sei eine Art Familie für sie gewesen. 2013 zog sie schließlich in eine unabhängige Wohnung, heute lebt sie in einer ambulant betreuten Wohngruppe.

Stuttgart hatte erste Initiative bundesweit

Seit Januar 2024 ist Michalski Vorsitzende der Initiative Psychiatrie-Erfahrene (IPE) Stuttgart, die ihren Vereinssitz im Kneippweg 8 in Bad Cannstatt hat. Der eigene Erfahrungsschatz bildet den Kern der Arbeit des IPE. Wenn Michalski in Vorträgen die Initiative vorstellt, erzählt sie daher auch manchmal aus ihrer eigenen Lebensgeschichte. Insgesamt setzt sich die IPE für ein möglichst selbstbestimmtes Leben für psychisch erkrankte Menschen ein, so Michalski.

Organisationen von Psychiatrie-Erfahrenen gibt es in mehreren Städten und auch auf Landes- und Bundesebene. Die 1991 gegründete Gruppe in Stuttgart sei bundesweit die erste gewesen und ist gut vernetzt, so Michalski.

Vernetzt mit Gemeinderat und Kliniken

Als Teil des Gemeinde-psychiatrischen Verbunds zeigt die IPE sich mitverantwortlich zusammen mit ambulanten, stationären und teilstationären Trägern für die regionale Versorgung Hilfesuchender in der Region. Die IPE bringt dort insbesondere Wissen ein, was die Menschen nach Klinikaufenthalten brauchen, so Michalski. Im städtischen Sozial- und Gesundheitsausschuss werden IPE-Mitglieder als sachkundige Einwohner zurate gezogen und sitzen dort mit Gemeinderäten und der Sozialbürgermeisterin an einem Tisch.

In der sozialpsychiatrischen Austauschrunde steht der Verein unter anderem in Kontakt mit Mitarbeitern verschiedener Kliniken und kann selbst Vorschläge für Programme einbringen. Da die Soteria-Station in Zwiefalten Ende des Jahres schließt, brachte die IPE dort die Idee einer Soteria-Einrichtung in Stuttgart ins Gespräch. Soteria bezeichnet dabei ein alternatives stationäres Behandlungskonzept, vor allem von Menschen in psychotischen Krisen. Eine alltagsnahe, entspannte und familienartige Umgebung soll dabei dazu führen, dass die Patienten möglichst wenig Medikamente benötigen.

Ambulante Behandlungsweisung

Auch im Beirat für behinderte Menschen der Stadt Stuttgart ist die IPE aktiv. Aktuell setze sie sich dort für eine „stille Stunde“, die in einem Laden in Stuttgart einmal die Woche umgesetzt werden soll, ein. In dieser Stunde soll Einkaufen in gedämpfter Lautstärke und ohne „Berieselung durch Musik“ möglich sein. Das wäre besonders für autistische Menschen oder blinde Menschen, die sich besonders auf ihr Gehör verlassen müssen, hilfreich, führt Michalski fort.

Politisch beschäftigt sich der IPE aktuell besonders mit der sogenannten ambulanten Behandlungsweisung. In psychiatrischen Kliniken dürfen Menschen bereits jetzt unter Zwang untergebracht und fixiert werden. Medizinisches Fachpersonal darf ihnen auch unter Anwendung von Zwang dort Medikamente verabreichen. Bei der ambulanten Behandlungsweisung geht es um eine mögliche Gesetzesänderung in den Ländern, die psychiatrische Zwangsmaßnahmen auch ambulant möglich machen sollen.

Beschluss des Bundesgerichtshofs

Eine Tagung des Zentrums für Psychiatrie Südwürttemberg stieß Ende 2023 die Diskussion für eine entsprechende Gesetzesänderung an, der Bundesgerichtshof ebnete in einem Beschluss Anfang 2024 den Weg dorthin. Die IPE sei gegen eine solche Gesetzesänderung im Sinne der ambulanten Behandlungsweisung, so Michalski. Das Recht zur freien Behandlung, insbesondere mit psychiatrischen Medikamenten, sei wichtig und Bestandteil der Menschenwürde.

Eine andere Position zum Thema habe beispielsweise der Angehörigen-Verband in Stuttgart. Dieser befürworte eine ambulante Behandlungsweise, weil sie sich davon erhoffen, nach einer klinischen Behandlung ihrer Angehörigen zu Hause entlastet zu werden, so Michalski.

Sensibilisierung der Polizei

Für 2025 hat sich die IPE vorgenommen, eine Schulung über den Umgang mit psychisch erkrankten Menschen für die Polizei anzubieten. „Der Kriminologe Thomas Feltes schätzt, dass sich 75 Prozent der Opfer tödlicher Polizeigewalt in einer psychischen Ausnahmesituation befunden haben“, schreibt die Initiative 2. Mai auf ihrer Webseite.

Die Initiative 2. Mai hatte sich gegründet, nachdem am Morgen des 2. Mai 2022 ein 47-jähriger Mann im Zuge eines Polizeieinsatzes in Mannheim verstorben ist. Die Polizisten wollten den Mann in ein psychiatrisches Krankenhaus zurückzubringen, einer von ihnen hatte ihn dabei unter anderem viermal mit der Faust auf den Kopf geschlagen.

Erster Mad Pride Day Baden-Württembergs

So etwas solle in Stuttgart nicht vorkommen, sagt Michalski. Der Landesverband Psychiatrie-Erfahrener Baden-Württemberg hat ein Buch herausgebracht, dass Beamte für den Umgang mit psychisch kranken Menschen sensibilisieren soll. Auch die Teilnahme an einem Erste-Hilfe-Kurs für psychische Gesundheit könne Polizisten helfen, mehr Verständnis für Menschen in psychischen Krisen und ihre Verhaltensweisen zu bekommen.

Ein weiteres Projekt des Landesverbands, indem Michalski auch Teil des Vorstands ist, sei ein Krisendienst für Baden-Württemberg, der nach 17 Uhr erreichbar sei. Der Verband plant am 11. Oktober 2025 auch den ersten Mad Pride Day in Stuttgart. Bei dieser erstmals in Baden-Württemberg stattfindenden Demonstration für die Rechte und Interessen der Psychiatrieerfahrenen geht es auch darum, Gemeinschaft und Vielfalt zu feiern.

Angebote gegen Ausgrenzung

Wichtig sei nicht zuletzt, Einsamkeit und Ausgrenzung von Menschen mit psychischen Erkrankungen entgegenzutreten und ihnen eine Möglichkeit zu bieten, sich zu engagieren und auch an Information zu kommen, so Michalski. Das könne beim IPE, aber auch anderen Organisationen geschehen.