Die Wanderarbeiterin Budhu Baimit mit ihrem Sohn im Dorf Bandha im Morena Distrikt in Madhya Pradesh zusammen mit anderen Wanderarbeitern. Foto:  

Mit der weltweit größten Ausgangssperre versucht Indien den Corona-Kollaps zu verhindern – Gesundheitssystem ist nicht vorbereitet

Neu-Dehli - Seit 39 Tagen sitzt Budhu Bai zusammen mit ihrem Mann und ihren vier Kindern unter einem Maulbeerbaum und versucht, sich so wenig wie möglich zu bewegen. Es ist heiß, und die 35-Jährige kann sich Hunger und Durst nicht leisten. Sie weiß nicht, wann sie und ihre Familie das nächste Mal etwas zu essen und zu trinken bekommen.

Die vierfache Mutter ist eine von Hunderttausenden Wanderarbeitern, die in Indien während der Corona-Krise gestrandet sind und jetzt vom Staat und Hilfsorganisationen versorgt werden müssen. Um zu verhindern, dass im Land mit dem maroden Gesundheitssystem Hunderttausende sterben, hat die Regierung den weltweit größten Lockdown aller Zeiten angeordnet. Die Lähmung des 1,3-Milliarden-Einwohner-Staates könnte unzählige Leben retten, doch die Auswirkungen auf Wirtschaft, Politik und sozialen Zusammenhalt sind schon jetzt massiv und könnten die drittgrößte Volkswirtschaft Asiens um Jahrzehnte zurückwerfen.

Ohne Toilette, ohne Strom, ohne fließend Wasser

Eigentlich wollte Budhu Bai jetzt mit ihrem Mann und ihren 16 und dreizehn Jahre alten Söhnen auf den Feldern im indischen Bundesstaat Madhya Pradesh stehen und mit Sicheln Weizen ernten. 300 Rupien, umgerechnet rund 3,62 Euro, sollten die vier Familienmitglieder so pro Tag und Kopf verdienen. Doch dann kam der Lockdown, manuelle Erntetätigkeiten wurden verboten, und Budhu Bai und ihre Familie verloren ihre Arbeit. Seitdem leben sie mit 18 anderen Wanderarbeitern und ihren insgesamt 17 Kindern unterm Maulbeerbaum und warten, dass Premier Narendra Modi das Land aus dem künstlichen Koma erweckt. Die Wanderarbeiter warten ohne fließend Wasser, ohne Toilette, ohne Strom, ohne Dach über dem Kopf und ohne Perspektive.

Wenn Budhu Bai sich erleichtern muss, wartet sie, bis es dunkel ist, denn auf den flachen Feldern ist es schwer, einen Fleck zu finden, der vor den Blicken der anderen geschützt ist. Einmal am Tag stellt der Bauer, für den sie zuvor gearbeitet haben, den Wanderarbeitern etwas zu essen hin. Es ist nicht viel und immer das gleiche: Weizenmehl und Kartoffeln. In Kanistern holen die Tagelöhner Wasser zum Trinken und Händewaschen. Es reicht gerade, um in der Hitze den Durst zu stillen und sich vor dem Essen die Hände zu waschen. Seife gibt es nicht.

„Der Lockdown ist schlimmer als das Virus“

Mahatma Gandhi Seva Ashram, eine lokale Partnerorganisation der Welthungerhilfe, versorgt die Wanderarbeiter mit zusätzlichem Weizenmehl, Linsen, Öl und Gewürzen. Außerdem hat die Hilfsorganisation Atemschutzmasken an die Menschen unter dem Baum verteilt. Eine Maske pro Person. In der Hitze fällt es schwer, damit zu atmen – und nachts rücken die Menschen unter dem Baum so dicht zusammen, dass die Masken keinen Schutz vor einer Infektion bieten.

Die humanitären Helfer versuchen immer wieder den Wanderarbeitern zu erklären, wie wichtig es ist, Abstand zu halten. Doch die Tagelöhner haben derzeit andere Sorgen als Social Distancing. „Ich weiß nicht viel über diese Krankheit“, sagt Budhu Bai. Sie, ihr Mann und ihre vier Kinder sind nie zur Schule gegangen. „Für mich ist der Lockdown schlimmer als das Virus. Ich darf nicht arbeiten und kann nichts für mich und meine Familie verdienen. Außerdem wollen wir nach Hause, um beim Rest unserer Familie zu sein“, sagt die Erntehelferin. Das aber wird mindestens noch bis zum 3. Mai nicht möglich sein. Bis dahin hat Modi den Lockdown festgesetzt.

Drastische Maßnahmen um das Schlimmste zu verhindern

Selbst China ist nicht so rigoros gegen die Ausbreitung des Virus vorgegangen. Die indische Regierung tut es. Sie weiß, dass sie keine andere Wahl hat. „Das Gesundheitssystem ist überhaupt nicht auf einen größeren Covid-19-Ausbruch vorbereitet. Die Folgen wären katastrophal“, sagt Christian Wagner, Indienexperte der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Intensivbetten, Beatmungsgeräte, Testmöglichkeiten, Schutzausrüstung für das medizinische Personal – es fehlt an allem. „Auch wenn die Regierung jetzt viel unternimmt: Man kann im Gesundheitswesen nicht in wenigen Wochen die Versäumnisse von 70 Jahren nachholen“, sagt Wagner.

Nivedita Varshneya, Landesdirektorin der Welthungerhilfe in Indien, hält die drastischen Maßnahmen der Regierung für grundsätzlich richtig. „Ohne diese Maßnahmen hätten wir wohl schon Hunderttausende Infizierte und Tausende Tote“, befürchtet die Entwicklungshelferin. Bisher gibt es in Indien nach Angaben der amerikanischen Johns-Hopkins-Universität 35 043 bestätigte Coronavirus-Infektionen 1154 Menschen sind in dem Land demnach bisher an Covid-19 gestorben (Stand: 1. Mai, 12:32 Uhr). Da in Indien bisher wenig getestet wird, dürfte die Dunkelziffer aber sehr viel höher sein. Noch Ende März hatte Ramanan Laxminarayan, der Direktor des Zentrums für Krankheitsentwicklungen in Washington, gewarnt, dass Indien sich zu einem globalen Corona-Hotspot entwickeln könne und das Land sich auf einen „Tsunami von Corona-Fällen“ einstellen müsse. Um das Schlimmste zu verhindern hatte Premier Modi deshalb am 24. März in einer Fernsehansprache verkündet, dass er bereits vier Stunden später eine landesweit geltende strenge Ausgangssperre verhängen werde.

Zu Fuß unterwegs – bis zur Erschöpfung

In Indien arbeiten nach Schätzungen bis zu 90 Prozent aller Erwerbstätigen ohne Arbeitsvertrag im informellen Sektor,. Schätzungsweise bis zu 40 Millionen Menschen verdienen ihren Mini- Lohn als Wanderarbeiter. Ein Großteil verlor durch den Lockdown über Nacht die Arbeit und oft auch die an den Job gebundene Unterkunft.

Nach der Fernsehansprache machten sich deshalb in einem Massenexodus binnen Stunden Hunderttausende Menschen überstürzt in überfüllten Bussen, Bahnen und auf den Dächern von Waggons auf den Heimweg. Als der öffentliche Personenverkehr eingestellt wurde, zogen Hunderttausende verzweifelt mit Kindern und Gepäck auf dem Kopf zu Fuß auf Straßen und Autobahnen weiter. Einige legten Hunderte Kilometer zurück, einige starben vor Erschöpfung. Hunderttausende strandeten, als die Bundesstaaten ihre Grenzen schlossen.

„Zwar hat Indien das größte staatliche Lebensmittelverteilungsprogramm der Welt und in der aktuellen Krise Tausende Gemeinschaftsküchen eingerichtet, aber es ist davon auszugehen, dass gerade jetzt viele Menschen durchs Raster fallen. Viele Wanderarbeiter stehen vor dem Dilemma: Sterben wir am Virus oder am Hunger“, sagt Christian Wagner.

Zu verzweifelt für einen Aufstand

Größere soziale Unruhen befürchtet der Indienexperte dennoch nicht. „Dafür sind die Wanderarbeiter einfach zu verzweifelt. Im Zweifelsfall nehmen sie lieber die Mahlzeiten am Wegesrand an, statt sich einen aussichtslosen Kampf mit der mit der übermächtigen Polizei zu liefern“, sagt Wagner.

Auf die indische Wirtschaft wird die Corona-Krise jedoch schwerwiegende Auswirkungen haben. „Die Wirtschaft schwächelte schon vor Corona, die Arbeitslosigkeit war so hoch wie seit Jahren nicht mehr. Nach dem jetzt zu erwartenden dramatischen Einbruch wird die Regierung verstärkt auf ihr Make in India-Programm setzen, um die einheimische Industrie zu stärken“, prognostiziert Wagner.

Budhu Bai macht sich keine Gedanken darüber, wie Indien langfristig aus der wohl schwersten Wirtschaftskrise seit über 40 Jahren kommen soll. Die Erntehelferin macht sich vor allem Sorgen, ob ihre vier Kinder satt werden. Nicht nur heute.